Wie moralische Freiheit entsteht

Steht die Debatte zur Sexualmoral „unter keinem guten Stern“ oder ist sie „eine Riesenchance“? Anmerkungen zu einer Tagung und ihrer Berichterstattung. Von Dr. Verena Wodtke-Werner

Nach Ansicht des Tübinger Moraltheologen Professor Franz-Josef Bormann stehen die Debatte über Sexualmoral und der gesamte Synodale Weg „unter keinem guten Stern“. Bei einer Tagung unserer Akademie am 13. Oktober widersprach ihm die Co-Leiterin des entsprechenden Forums des Synodalen Weges, Birgit Mock. Sie sieht im Synodalen Weg optimistisch „eine „Riesenchance“. Die Katholische Nachrichten Agentur (KNA) meldete nur Bormanns Ansicht und vermittelte damit ein unseres Erachtens zu einseitiges und unvollständiges Bild der Tagung, die analog und online zugänglich war und ist. Deshalb wollen wir weitere Sichtweisen und Argumente ins Feld zu führen, die Svenja Stumpf vom Bund der Katholischen Jugend (BDKJ), Dr. Michael Brinkschröder als Vertreter Homosexuelle und Kirche (HuK), und Birgit Mock sowie der Moraltheologe Professor Dietmar Mieth zu bedenken gaben.

Birgit Mock, die mit Bischof Helmut Dieser das Forum zur Sexualmoral leitet, glaubt, dass die Gruppe schon nach wenigen Monaten mehr zustande gebracht hat zum Thema Sexualmoral, als Veröffentlichungen der letzten 20 Jahre. Die elf Voten, die mittlerweile online zugänglich sind, zeigen das ziemlich gut. Ähnlich wie Dietmar Mieth setzt das Forum bei den konkreten Erfahrungen der Menschen an und versammelt eine hohe Pluralität an Meinungen durch seine Mitglieder. Drei junge Leute vom BDKJ, Homosexuelle, Lesben und Transgenderpersonen, Singles, auch Priester, wurden nicht durch schriftliche Statements ins Gremium geholt, sondern live. Der Leitung war der ganz persönliche Zugang zum Forum wichtig.

Nach der Sammelphase kommt die Streitphase

Nach der Sammelphase, so Mock, komme jetzt natürlich die Streitphase. „Was wir sagen“, so Mock, „müssen wir begründen“. Verbote oder Drohungen beeindrucken heute niemanden mehr und schon gar nicht die Generation unter 30, wie Svenja Stumpf zu verstehen gibt. Trotzdem ist sie mit Ihrer Generation durchaus der Meinung, dass nichts ohne Moral geht, aber man mehr den konkreten Erfahrungen der Menschen und ihrem Gewissen vertrauen muss. Birgit Mock und Svenja Stumpf sind damit ganz nah beim induktiven Ansatz von Dietmar Mieth: „Menschen machen“, so seine These, „angeleitet von Sinnerfahrungen, moralische Erfahrungen“. Dabei werden natürlich negative Erfahrungen gemacht und auch anderen Leid zugefügt, aber „wenn man die Freiheit deshalb nicht respektiert, weil sie falsch gebraucht werden kann, (dann) wird man die moralische Freiheit nicht aufbauen können, die m.E. in der freien Selbstverpflichtung liegt“, sagt Mieth. Aufgestoßen ist der BDKJ-lerin besonders Bormanns negative Bewertung der „seriellen Monogamie“ als konsumistisch. Bormann konstatiert durchaus positiv, dass Jugendliche Verbindlichkeit leben wollen, „das sei „ein hoher Wert“, aber es fehle am Willen zur Dauerhaftigkeit. Svenja Stumpf hält junge Beziehungen aber per se auch nicht für „fragiler“ als alte Beziehungen. Bewertungen dieser Art sind ihres Erachtens deshalb kontraproduktiv, weil durch die Bewertung jeder Dialog im Ansatz schief und unmöglich wird.

Michael Brinkschröder, selbst Religionslehrer in einer Münchner Berufsschule, kennt beides: er kennt Jugendliche, die einen echten Wunsch nach Verbindlichkeit und Treue haben, und solche, die sexuell konsumistisch unterwegs sind, das auch zugeben und wollen, ohne auszuschließen, irgendwann mal treu zu sein, wenn der oder die Richtige kommt.
 

Sexualmoral vom Kopf auf die Füße stellen

Die Ansicht, die konkreten Erfahrungen ernst zu nehmen und die Thematik in die Sphäre der Pastoral zu legen, statt weltkirchlich und dogmatisch zu reflektieren, teilten fast alle Teilnehmenden der Tagung. Erfahrung heißt eben auch Körpererfahrung und billigt dem eigenen Körper durchaus zu, eine moralische Erkenntnisquelle zu sein und nicht nur ein fleischliches Anhängsel des Menschen, das man mittels Geist und kirchlicher Zucht im Zaum halten  muss. Die Leibfeindlichkeit, die aus Teilen der antiken Philosophie Eingang ins Christentum fand, ist bis heute nicht getilgt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Wille der Amtskirche überdeutlich, hier moralisch richtungsgebend zu sein, und daran hat sich kaum etwas im Grundsatz verändert. Der Körper als Medium der Erkenntnis und moralischer Bewertung verändert vieles. Brinkschröder weist zu Recht auf homosexuelle und transgender Menschen hin, die mit ihrem Körper eine andere oder diffuse Erfahrung machen, wenn sie sich zwischen den Geschlechtern fühlen. Die Ich-Perspektive ist eine ganz wichtige Erkenntnis, grade für transgendergeschlechtliche Menschen, sagt Brinkschröder.

Diese recht neuen Erkenntnisse stellen aber das Diktum der notwendigen Komplementarität in Frage, die die Kirche einzig in einer ehelichen Verbindung zwischen Frau und Mann sieht. Zudem muss diese Verbindung auch auf Fruchtbarkeit hin angelegt sein; wenn auch nicht in jedem Akt. Ähnlich „großzügig“, so Bormann, verhalte sich die Kirche bei der Alterssexualität, die sie billigt, obwohl per se die Fertilität nicht mehr gegeben ist. Hier treten nicht nur logische Widersprüche auf, sondern der Körper und die verschiedene körperliche Erfahrung ist kein Medium der Erkenntnis und der moralischen Erfahrung, sondern muss moralisch beurteilt werden.
 

Umgang mit Homosexualität und mehr…                

Mit dem Vertreter der HuK waren natürlich das Thema der Homosexualität und der bis heute schwierigen Geschichte und Umgangsweise der katholischen Kirche mit diesem Thema virulent. Immerhin hat der Papst dieser Tage eingeräumt, dass „Homosexuelle berechtigt sind, in einer Familie zu leben“. Und Franziskus würdigt – auch wenn er die Ehe nach wie vor aufgrund der Fertilität Mann und Frau vorbehalten wissen will – die eingetragene Partnerschaft Homosexueller als Ausdruck der Verbindlichkeit. (Katholisches Sonntagsblatt 22/2020, S.6) In dieser Linie hofft auch das Forum, so Mock und Brinkschröder, dass wir in Deutschland den Segen für homosexuelle Paare offiziell ausüben dürfen, wo doch, woran ich als Moderatorin erinnerte, vom Motorrad über den Traktor bis hin zu Wellensittichen oder Meerschweinchen eigentlich alles gesegnet wird.

Warum, so fragte ich als Moderatorin in der Veranstaltung sowohl Svenja Stumpf als auch Michael Brinkschröder, engagieren sie sich immer noch auf diesem Gebiet? Die Kirche unterstütze ausdrücklich die Menschenrechte. Deshalb müsse sie sich auch mit den Lebensformen von Minderheiten auseinandersetzten, antwortete darauf der Huk-Vertreter. Auch die Uiguren sind in China eine kleine Minderheit, der unsägliches Leid angetan wird. Aber die Marginalität der Gruppe ist gerade kein Gegenargument, sie außen vor zu lassen, sondern mache es zwingend notwendig, sich aufgrund der Gleichheit aller Menschen, gerade mit einer ausgegrenzten Minderheit zu befassen. Die Kirche ist ein riesiger Global Player mit nach wie vor hohem gesellschaftlichem Einfluss, besonders in Ländern außerhalb Europas. Sie gibt wichtige Leitplanken für das Zusammenleben vor; dazu gehört auch das Zusammen-Lieben.

„Liebet einander“

Zudem, das hat die MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche gezeigt, sind viele Priester offen oder verdeckt, ihnen selbst bewusst oder unbewusst, homo- oder bisexuell. (40 von 50 Priestern konstatierten das in den Interviews der MHG-Studie). Auf die höchst verhängnisvolle Melange von Homophobie und Homosexualität im Klerus konnte die Tagung natürlich nicht eingehen, aber die fatale Verknüpfung von Sexualität und Ausübung von Macht spielt auch in der katholischen Kirche eine allgegenwärtige Rolle, wie etwa der Katechismus beredt Auskunft gibt.

Gut nachzulesen sind kirchliche Positionen, entsprechende Bibelstellen und die aktuelle Position des BDKJ in der kurzen und übersichtlichen Broschüre „Liebet einander“, die Svenja Stumpf vorgestellt hat. Ähnlich wie in der Broschüre plädiert sie für katholische Vielfalt, in der sich konservative Positionen, die es mit der Generation Benedikt natürlich auch unter jungen Leuten gibt, gegenseitig akzeptieren, sich für einander interessieren und mit Respekt austauschen. Eine wünschenswerte Haltung, die sie sowohl in der jungen Generation als auch in manchen Teilen in der Amtskirche sehr vermisst. Das Synodale Forum versucht diesen Weg des Anhörens und des Respektes zu gehen und dennoch auf der Ebene der Pastoralen zu Handlungsempfehlungen zu kommen. Vielleicht kommt die Kirche auf dem Synodalen Weg weiter; es wäre ihr zu wünschen zwischen der Skepsis von Prof. Bormann und dem Optimismus von Birgit Mock als Co-Leiterin des Forums.

Akademie-Direktorin Dr. Verena Wodtke-Werner fordert, die Kirche müsse im Forum Sexualmoral des Synodalen Wegs die unterschiedlichen Positionen respektieren und benennen.

Der Moraltheologe Prof. Dietmar Mieth sieht auch in sexuellen Erfahrungen die Möglichkeit, zu moralischer Freiheit zu gelangen.

Der Tübinger Moraltheologe Franz-Josef Bormann bekräftigte die Position, sexuelle Beziehungen seien nur in der Ehe legitimiert.

Svenja Stumpf vom BDKJ wehrte sich dagegen, Beziehungen junger Leute pauschal als sexuell konsumistisch abzuqualifizieren.

Michael Brinkschröder fordert von der Katholischen Kirche mehr Respekt für homosexuelle Lebensweisen.

Birgit Mock ist stellvertretende Vorsitzende des Synodalen Wegs. Sie sieht in den Foren eine große Chance, dass sich die Kirche mit mehr Respekt den unterschiedlichen Lebensentwürfen der Menschen nähert.

Dr. Verena Wodtke-Werner moderierte die Veranstaltung.