Neue soziale Ungleichheiten

Veränderte Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Entwicklungen und neue Familienformen bringen neue soziale Ungleichheiten hervor. Darüber haben Experten und Expertinnen diskutiert.

Seit langem ist bekannt, dass Familien im unteren Einkommensbereich und Alleinerziehende sozial benachteiligt sind. Veränderte ökonomische und politische Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Entwicklungen und neue Familienformen bringen nun neue soziale Ungleichheiten hervor – besonders auffallend in den Bereichen Gesundheit und Alterssicherung.

Sebastian Pehle von der Ruhruniversität Bochum lenkte zum Auftakt der Veranstaltung den Blick auf die ökonomische Lage von Familien in Deutschland. Aufbauend auf den Daten des Sozio-ökonomischen Panels skizzierte er die Erwerbsbeteiligung und Einkommensentwicklung von Familien seit 1990. Auffallend sei zweierlei: zum einen eine starke Ausweitung der Erwerbsarbeit von Frauen, allerdings in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (Teilzeit unter 50 Prozent), zum anderen eine Verschiebung der Einkommensunterschiede von unterschiedlichen Haushaltstypen (Familien versus Haushalte ohne Kind) hin zu Unterschieden innerhalb gleicher Familientypen. Beide Beobachtungen führten zu sozialen Ungleichheiten, sagte Pehle, im ersten Fall hinsichtlich der Rentenansprüche von teilzeitbeschäftigten Frauen, im zweiten Fall im Blick auf die sozio-ökonomische Grundlage von Familien mit kleinerem Einkommen. Hätten höhere und mittlere Einkommen von den familienpolitischen Leistungen der letzten Jahre profitiert und ihr Realeinkommen steigern können, so erzielten die Maßnahmen bei schwächer gestellten Haushalten nur geringe bis keine Auswirkungen. Die künftige Familienpolitik sollte seines Erachtens deshalb in Zukunft stärker auf benachteiligte Gruppen abzielen und nicht nach dem Gießkannenprinzip versuchen, alle Familien gleichermaßen zu begünstigen. Ein besonderes Augenmerk legte Pehle auf die Gruppe Alleinerziehender und pflegender Angehöriger, die in besonderem Maße von sozialen Ungleichheiten im Bereich Gesundheit und Alterssicherung betroffen seien.

„Armutsquoten nicht dramatisch gestiegen.“

Die gute Nachricht, dass „die Armutsquoten in den letzten Jahren nicht dramatisch gestiegen sind“ brachte Professor Gerhard Bäcker mit, der im zweiten Vortrag über Kinderarmut in Deutschland sprach; er relativierte sie freilich sogleich wieder: „Aber es gibt auch keine positiven Entwicklung trotz einer günstigen ökonomischen Situation in Deutschland“. Gerade bei Alleinerziehenden liege die Armutsgefährdungsquote seit vielen Jahren bei um die 40 Prozent. Eine weitere Risikogruppe bildeten Familien mit mehreren Kindern sowie Eltern, die arbeitslos sind. Da Kinderarmut zwingend mit der Armutslage der Bedarfsgemeinschaft, in der sie leben, verbunden sei, sei sie immer auch Ausdruck der Elternarmut und nur über diese zu bekämpfen. Entscheidend für die individuellen und gesellschaftlichen Folgen ist nach Bäckers Ansicht die Dauer der Armutsbetroffenheit. Gerade bei längerer Betroffenheit sei sie gravierend und reiche von gesundheitlicher Beeinträchtigung über soziale Isolation bis hin zur Beeinträchtigung von Entwicklungschancen und zur Bildungsbenachteiligung. Handlungs- und Reformbedarfe sieht er daher bei der Verbesserung der Lebens-, Arbeits- und Einkommenssituation der Eltern, bei der Verbesserung des Familienleistungsausgleiches, aber auch bei der sozialen Infrastruktur für Kinder und Familien. Dass gerade die armutsgefährdeten Kinder Leistungen im Bereich Bildung und Teilhabe nur wenig in Anspruch nähmen, müsse verbessert werden. Das Starke-Familien-Gesetz weist in seinen Augen dabei in eine gute Richtung. In der sich anschließenden Diskussion zeigte sich, dass vor allem hinsichtlich einer möglichen Kindergrundsicherung noch viele offene Fragen bestehen.

Auf der Grundlage der beiden Hauptvorträge konnten die Teilnehmenden am Nachmittag einzelne Aspekte in den Denkwerkstätten vertiefen und andere aufgreifen. So befasste sich Petra Rattay vom Robert-Koch-Institut in Berlin ausführlich mit der Gesundheit von alleinerziehenden Müttern und Vätern. Svenja Pfahl vom sozialwissenschaftlichen Forschungs- und Beratungsinstitut berichtete von einer Studie zur „verkürzten Vollzeit“ und deren gleichstellenden Effekten auf Familien bezüglich Zeitverteilung, Arbeitszeit und Sorgearbeit. Und Dr. Eveline Reisenauer vom Deutschen Jugendinstitut stellte ihre Forschungsergebnisse zu Diversität und Wandel in Migrantenfamilien dar.

Ein Kind – zwei Eltern? Vielfalt von Elternschaft

Unter der Rubrik Zukunftsfragen der Familie diskutierten Dr. Bernd Eggen (FamilienForschung Baden Württemberg), Dr. Birgit Mock (Zentralkomitee der deutschen Katholiken) und Dr. Thomas Meysen (Juristisches Forschungszentrum SOCLES) mit den Teilnehmenden kontrovers über Multiple Elternschaft, die durch das Auseinanderdriften von biologischer, rechtlicher und familialer Elternschaft hervorgerufen wird. Der Wandel familialer Wirklichkeiten ist laut Eggen nichts Neues, er hat sich in den letzten Jahren allerdings beschleunigt. So lassen sich im Blick auf Elternschaft drei Entwicklungen ausmachen: eine simultane und sequentielle Pluralisierung der Elternschaft (Trennung, neue Partnerschaft, Wiederverheiratung), die Auflösung der biologischen Reproduktionstriade (zwei verschiedengeschlechtliche Paarungspartner und deren Nachwuchs) durch Fortschritte in der Reproduktionsmedizin sowie das Auseinanderdriften von biologischer Reproduktionstriade und sozialer Elternschaft. Diese Entwicklungen führen zu einer Zunahme multipler Elternschaften, bedingen aber auch – so die These von Eggen – eine neue Normalität von Elternschaft, die geprägt ist durch eine Selbstherstellung und Selbstgestaltung bei gleichzeitiger Abnahme von Fremdorientierung durch kulturelle und religiöse Traditionen.

Die rechtlichen Anforderungen multipler Elternschaft sieht Meysen im Bereich der Fortpflanzungsmedizin (Leihmutterschaft, Samen- und Eizellenspende) und in der Frage der Eltern-Kind-Zuordnung (Sorgerecht, Unterhalt, Namensrecht, Mit-Mutterschaft, Abstammungsrecht). Dr. Birgit Mock brachte mit ihrem Impuls die ethischen Aspekte aus katholischer Perspektive ein. Sie betonte neben der berechtigten und wichtigen Diskussion um die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin die Frage danach nicht zu vergessen, was – unabhängig von der Form der Elternschaft – eine gute Familie ist und welche Bedingungen für ein gutes Gelingen notwendig sind. Gesellschaftlich sei es wichtig, die Leistung von Familien und Eltern anzuerkennen und all jenen Familien mit Beratung und Begleitung zur Seite zu stehen, die Hürden nehmen und Herausforderungen bewältigen müssten.

Unabhängig davon gilt es laut Mock, die Grenzen reproduktionsmedizinischer Möglichkeiten auszuloten. Hieran entspann sich eine hitzige Diskussion auf dem Podium, die folgende Fragen berührte: Gibt es ein Recht auf Elternschaft? Sollte die soziale Elternschaft der biologischen vorangestellt werden? Welche Auswirkungen haben die Samen- und Eizellenspende sowie die Leihmutterschaft auf die Beteiligten? Viele der Fragen blieben offen. In einem aber waren sich die Diskutierenden einig: es braucht einen offen geführten gesellschaftlichen Diskurs über die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin und deren Auswirkungen. Das Podium hat den Raum dafür geöffnet.

Gleiche bleiben unter Gleichen

Der zweite Veranstaltungstag der Hohenheimer Tage der Familienpolitik nahm – wie gewohnt – die Familienpolitik des Bundes ins den Blick. Welche familienpolitischen Maßnahmen wurden ergriffen, um auf bestehende Ungleichheiten zu reagieren und wie erfolgreich waren diese? Welche Schritte werden eingeleitet, um auf neue Ungleichheiten zu reagieren? Neue Realitäten von Familie gibt es gemäß den Ausführungen von Professorin Dr. Ilona Ostner zwar hinsichtlich einer zunehmenden Vielfalt an Familienformen (relative Abnahme von Eheschließungen, Zunahme von Lebenspartnerschaften, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit Kindern und Ein-Eltern-Familien). Überraschend aber sei, dass angesichts der Annahme einer fortschreitenden Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft weiterhin eine starke Bildungshomogamie und ethnische Homogamie bestünde: Gleiche bleiben unter Gleichen. Fast zwei Drittel der gemischtgeschlechtlichen Paare haben – so Ergebnisse des Mikrozensus 2017 – einen Partner mit gleichem Bildungsabschluss, 85 Prozent der Paare sind deutsch-deutsche Paare. Laut Ostner könne ein großer Teil sozialer Ungleichheiten durch diese Homogamie erklärt werden. Gut gebildete Personen mit besseren Qualifikationen und Einkommenschancen heirateten in ihrer Schicht. Die Auswirkungen auf daraus resultierende Unterschiede bezüglich der Lebensstandards (beispielsweise im Bereich der Mieten) seien nicht zu unterschätzen. Familienpolitische Maßnahmen hätten darüber hinaus – so Ostner die Ergebnisse von Pehle unterstreichend – eine besonders große Wirkung auf die Mittelschicht. Hinzu käme, dass die Kenntnis und Nutzungsraten von Angeboten und Hilfeleitungen in diesem Bereich gerade in armen und Migrationsfamilien auffallend niedrig seien.

Familien entlasten – Eltern stärken

Mit Petra Mackroth, der Leiterin der Abteilung Familie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, war eine kenntnisreiche Innensicht auf die Familienpolitik der letzten Jahre möglich. Mackroth bekräftigte, dass in Deutschland die Chancen der Kinder auf Bildung und Teilhabe weiterhin stark mit dem sozioökonomischen Status der Eltern verknüpft sind. Familienpolitik müsse daher auch genau dort ansetzen und Familien mit kleinen Einkommen stärken – eine Gruppe, die in Deutschland etwa 8,2 Millionen Familien mit rund 13,2 Millionen minderjährigen Kindern betrifft. Mit dem Starke-Familien-Gesetz sei es durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags erstmals gelungen, das rechtliche Existenzminimum von Kindern durch Leistungen zu decken und gleichzeitig die Bildungs- und Teilhabemöglichkeiten zu stärken. Das Gute-Kita-Gesetz setze neben anderen Zielen ebenfalls dort an und soll auch Förderungs- und Bildungsangebot sein. Den Blick in die familienpolitische Zukunft überschrieb Mackroth mit „Familien entlasten – Eltern stärken“. Sie subsummiert darunter die Diskussion über die Kindergrundsicherung genauso wie eine gute Ganztages-Betreuung für Schulkinder und eine Elterngeld-Reform, um Eltern noch mehr Zeit für die Familie zu ermöglichen. Der nächste Familienbericht des Ministeriums befasst sich daher auch mit dem Thema „Elternschaft heute“.

Das abschließende Podium, das durch Beiträge von Beate Gröne und Prof. Althaus ergänzt wurde, ermöglichte den Teilnehmenden in die Diskussion um die Familienpolitik des Bundes einzusteigen. Dies wurde reichlich genutzt. Es wurde kritisch und kontrovers debattiert. Das Motto der Hohenheimer Tage der Familienpolitik „Informieren, ins Gespräch kommen und gemeinsam weiterdenken, wie Deutschland familienfreundlicher werden kann“ wurde somit auch in diesem Jahr erfolgreich umgesetzt. Seine Fortsetzung findet es bei den achten Tagen der Familienpolitik vom 23. bis 24. November 2021 erneut in Hohenheim.

(Christina Reich)


Dr. Thomas König und Dr. Stephanie Saleth leiteten zusammen mit Heike Lipinski und Cora Westrick die Tagung.

Professor Dr. Gerhard Bäcker sprach über Kinderarmut.

Teilnehmende der Tagung verfolgen aufmerksam einen Vortrag.

Dr. Birgit Mock, Dr. Bernd Eggen und Dr. Thomas Meysen diskutierten kontrovers über multiple Elternschaft.