Digitalisierung dringt in alle Bereiche

Der Vorsitzende des Deutsches Ethikrats, Professor Peter Dabrock, sieht die Welt wegen der Digitalisierung in einer revolutionären Phase. Die Ethik muss Antwort auf viele Fragen finden.

Die Welt ist aus den Fugen, sagen dieser Tage viele Menschen. Und Professor Peter Dabrock widerspricht da nicht. Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats sieht in der Digitalisierung, in künstlichen Systemen und intelligenten Maschinen ein Thema, „das die Gesellschaft grundstürzend verändert“. Dabrock, der katholische und evangelische Theologie, zudem Soziologie studiert hat und an der Universität Erlangen systematische Theologie und Ethik lehrt, ist überzeugt davon, dass „Big Data, die vierte Revolution nach Kopernikus, Darwin und Freud,“ keinen Menschen unberührt lässt. „Wir müssen unsere Lebensform wehrhaft verteidigen“, fordert der Wissenschaftler bei seinem Vortrag im vollbesetzten großen Saal im Tagungshaus Weingarten.

Die mit Schlagworten wie „künstliche Intelligenz“, „machine learning“ oder „deep learning“ umschriebene Digitalisierung erfasse alle Bereiche des menschlichen Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens, erläuterte Dabrock und verdeutlichte dies an Beispielen: So sei etwa der Forschungsetat von Google oder Amazon signifikant höher als der des ganzen Bundesforschungsministeriums. Oder: Facebook ermittle aus Nutzerdaten allein durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen Depressionsneigungen und mutmaßlich Suizidgefährdete und warne sie präventiv. „Ist das ethisch vertretbar oder nicht?“ fragt der Wissenschaftler? „Und was passiert, wenn menschliche Krisen so technokratisch und ökonomisch getrieben angegangen werden? Denn die errechnete Suizidneigung wird ja psychiatrisch nicht abgefedert.“ Dabrock bezeichnet Google, facebook, amazon und Apple als „vier apokalypische Reiter,  die heute schon mehr über uns wissen als wir selber“.

Was passiert, wenn Kulturpraktiken plötzlich verschwinden?

Bei dem Begriff der autonomen Systeme denken wir Deutschen vor allem an die Mobilität. Autonomes Fahren gilt als große Herausforderung der Digitalisierung. Weltweit, so schildert Dabrock die Prognosen, könnten damit 1,6 Millionen Unfall-Tote pro Jahr vermieden und die Unfallzahlen erheblich gesenkt werden. Damit verbundene ethische Fragen – etwa bei Unfällen – sieht der Vater von vier Kindern freilich nicht einmal als die wichtigsten an. Er warnt davor, sich in Dilemmata bringen zu lassen nach dem Schema: Wer soll zuerst gesichert werden, das Kind, der alte Mensch, der Fußgänger oder der Radfahrer?  
Dabrock sieht viel weiter reichende Fragen: Was passiert mit der nächsten Generation, die ohne jegliche Fahrpraxis aufwächst, wenn sie nicht mehr selber fährt, aber in Gefahrsituationen doch eingreifen soll? Es gehe also auch um Kulturpraktiken, die zur ethischen Herausforderung werden.

Mit den neuen industriellen Möglichkeiten gehe es etwa darum, was passiere, wenn in den nächsten 20 bis 30 Jahren rund 40 bis 50 Prozent aller bisherigen Jobs wegfallen. Die Identifikation des Menschen über seine Arbeit – was werde daraus? Wie nah Fluch und Segen beieinander liegen, verdeutlicht Dabrock auch am medizinischen Bereich: Die mit Millionen Daten gefütterten Systeme könnten bald bessere Diagnosen stellen als jeder noch so gut fortgebildete Arzt, aber wie sichert man Insulinpumpen und Herzschrittmacher vor Hackern? Oder die sozialen Medien, deren Prinzip es ist, Emotionen zu schüren durch Nähe oder Aufreger. „Dieses innere Element von social media trägt zur Radikalisierung der Menschen bei“, sagt Dabrock. Das fordere unsere Demokratie heraus. Oder die Wirtschaft: Die Plattform-Ökonomie könne heute schon die Realwirtschaft in Millisekunden beeinflussen, ohne dass wir das durchschauen könnten.

Dabrock sorgt sich um Demokratie und Freiheit

Dabrock, der dank seiner Funktion im Deutschen Ethikrat nicht nur im Austausch mit der Politik, sondern auch mit weltweit aufgestellten Unternehmen steht, lässt keinen Zweifel daran, dass er viele Risiken im Bereich der autonomen Systeme sieht. Gleichwohl warnt er davor, sich der Entwicklung verweigern zu wollen – das sei gar nicht möglich – Maschinenstürmerei zu versuchen oder die Moralkeule zu schwingen. Es geht ihm vielmehr darum, einen „verantwortlichen Korridor“ zu finden zwischen verweigernder „Protestkommunikation“ einerseits und bloßer Akzeptanzbeschaffung andererseits. Dabei sei Sorge zu tragen, dass die Gesellschaft nicht noch mehr auseinander driftet als bisher schon; denn dies sei eine große Gefahr für unsere rechtsstaatliche Demokratie und unsere Freiheit. Ethik in Zeiten von Big Data ist da vor allem Sozialethik. Man könne immer und überall menschlich sein oder nicht, sagt Dabrock. Es bleibe die Verantwortung für das Tun oder das Unterlassen sinnvollen Tuns. In der „onlife-Welt“ wachse zusammen, was bisher nicht zusammen gehörte und unter bestimmten Umständen auch nicht zusammengehört (etwa die Suizid-Prophylaxe von Facebook). 

Programmieren ist nicht die zentrale Kompetenz für die Zukunft

Um diesen Risiken verantwortlich steuernd begegnen zu können, dürfe nicht nur der Einzelne zur Vorsicht ermahnt werden. Nötig sei vielmehr ein multidimensionaler Ansatz und Regierungshandeln, das viele Akteure einbeziehe und das Ziel verfolge, Datensouveränität zu erreichen. Privatheit müsse begriffen werden als die Möglichkeit, die Kontrolle über seine Daten zu behalten. Dabrock zeichnete in diesem Zusammenhang allerdings ein sehr düsteres Bild der deutschen Politik. Als Vorsitzender des Deutschen Ethikrats führe er viele Gespräche auf politischer Ebene, habe dabei allerdings sehr oft das Gefühl, dass die Politik die Größe und die Bedeutung des Problems noch überhaupt nicht erkannt habe. Er hält auch nichts von der politischen Forderung, Kinder müssten in der Schule programmieren lernen. Sinnvoll ist nach seiner Ansicht eher eine Mischung aus Medienkunde, Psychologie, Ethik und Programmieren. Denn entscheidend sei zu lernen urteilsfähig zu bleiben. Für diese Kompetenzen hat Dabrock andere Schlagworte zur Hand: „Bibel, Faust, Musik, Mathematik, zwei Fremdsprachen und Sport“. Und für ein christlich fundiertes Bewusstsein fügt er hinzu: „Verletzlichkeit wahrnehmen, Freiheit stärken, Pluralität würdigen, Inklusion befördern und der Stadt Bestes suchen.“

(Barbara Thurner-Fromm)

Der Vortrag von Professor Peter Dabrock im Video

Interview mit Professor Peter Dabrock in der Schwäbischen Zeitung zum Thema

Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Professor Peter Dabrock, bei seinem Vortrag im Tagungshaus in Weingarten.