Wie das Alltägliche zum Besonderen wird

Gegenüber Frauen – Frauen gegenüber. Frauenbilder von Hubert Kaltenmark. Im Tagungshaus Weingarten ist die bisher größte Ausstellung des Künstlers vom Bodensee zu sehen.

Wer durch die Ausstellung mit Bildern des Tettnanger Künstlers Hubert Kaltenmark geht, sieht viele Frauen. Kaltenmark zeigt sie in Alltagssituationen: Radelnd, einkaufend, Kinderwagen schiebend, durch einen Park schlendernd, an einer Ampel wartend. Sie machen nichts Besonderes – und doch sind sie für Kaltenmark etwas Besonderes. „Frauen sind meistens die interessanteren Leute“, so zitiert der Friedrichshafener Journalist Harald Ruppert bei der Vernissage den 57-jährigen Maler. Dass ein Mann das so sieht, überrascht nicht wirklich. Aber der gebürtige Tübinger Hubert Kaltenmark  betrachtet die Frauen nicht voyeuristisch, er möchte ihre Präsenz deutlich machen. „Gegenüber Frauen – Frauen gegenüber“ hat er seine Ausstellung auf zwei Stockwerken betitelt.

Die Unschärfe soll zum Nachdenken anregen

Es ist ein eigenwilliger, aber zugleich auch höchst aktueller Beitrag zum 100-Jahr-Jubiläum des Frauenwahlrechts geworden. Ruppert beschreibt die Arbeitsweise des Künstlers so: „Kaltenmark macht keine fotografisch perfekten Bilder. Die Arbeiten sind teils Schnappschüsse. Und oft sind sie nicht erst unscharf wegen des speziellen Verfahrens, mit dem er sie auf Chinapapier überträgt. Auf Unschärfe und andere Uneindeutigkeiten arbeitet er gezielt hin.“  Mit dieser Technik regt der Künstler zum Betrachten der Bilder an, denn sie erklären sich nicht sofort, sondern regen zu Fragen an. Die Serie „Sarah am Degersee“ etwa: Sie zeigt schemenhaft eine Frau im Wasser, aber es bleibe offen, ob sie ihren Spaß dabei hat oder ob sie gegen das Ertrinken kämpft.  Fotos unscharf zu machen ist fester Bestandteil seiner Arbeit. Ruppert ließ in seiner Einführung die  Gäste hinter die Kulissen der Bilder blicken: „Kaltenmark druckt die Fotos mit dem Tintenstrahldrucker auf Plastikfolien aus, die Farbe steht dabei auf der Kunststoffoberfläche und kann nicht einziehen. Die feuchte Oberfläche presst er danach auf besonders saugfähiges China-Papier – auf dem die Farbe verschwimmt. Das Foto wird damit zur Druckgrafik, aber den Effekt, den er dabei erzielt, ist malerisch“, erläuterte Ruppert.
Nicht die Sujets also sind in erster Linie Kaltenmarks Kunst – auch wenn er dabei in etlichen Bildern durchaus Verbindung zur Kunstgeschichte aufnimmt, etwa beim klassischen Motiv eines Frauenrückens –, sondern die Form der Verarbeitung und der Verfremdung, die erst den Blick auf Neues eröffnet. Im oberen Teil der Ausstellung etwa treibt er die Unklarheit auf die Spitze: In großformatigen Bildern sind Frauen zu sehen, manchmal auch nur schemenhaft zu erahnen, etwa bei einem gesenkten Frauenkopf im Treppenhaus. Denn wie ein dünner Vorhang legt Kaltenmark über seine  Motive Zahlenkolonnen.

Zahlenkolonnen wie eine Bordüre über die Bilder gelegt

Auch sie sind eigentlich nichts Besonderes, sondern persönliche Zahlen und Daten, die den Künstler in seinem Alltag umgeben: Flugnummern oder Abfahrtszeiten, Codenummern von Bestellungen oder Bankverbindungen. Diese Ziffern notiert sich Kaltenmark in einem „number diary“, seinem Zahlen-Tagebuch, das auch einer Bilderserie den Namen gab. So unwichtig die einzelne Zahl auch sein mag, „aber es ist das, woraus sich unser Leben zusammensetzt“, beschrieb Ruppert die individuelle Bedeutung solcher Alltäglichkeiten. „Um auszudrücken, dass man als Mensch nichts zählt, gebrauchte man früher den Spruch: Du bist nur eine Nummer. Heute ist es umgekehrt. Ohne Nummern bist du kein Individuum mehr. Ohne PIN-Nummer kann ich aber nicht mal mehr Geld abheben “, sagte Ruppert.
Doch Kaltenmarks Verfremdungsabsicht  macht auch davor nicht Halt. Der Künstler, ursprünglich  Steinbildhauer, der in der Meisterklasse bei Erwin Rager und Ernst Vollmer in Aschaffenburg studiert hat, benutzt die klare Schrift der Grabsteine, um seine Zahlenkolonnen zu anonymisieren: alle Ziffern gleich groß, in gleichem Abstand hintereinander aufgelistet ist auf den Bildern nicht mehr erkennbar, was der Ausgangspunkt war und welche Codes sich dahinter verbergen. Die Frauen auf den Motiven verschwinden hinter den Zahlen, die eines deutlich symbolisieren: 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts leben wir in Zeiten der Digitalisierung. Das Geschlecht, die Frage nach Rechten und gesellschaftlichen Rollenbildern gerät in den Hintergrund. Denn der Mensch wird zum digitalen Code – wenn er sich nicht gegen die Vereinnahmung wehrt.
(Barbara Thurner-Fromm)

Info:

Die Ausstellung im Tagungshaus in Weingarten ist bis 3. Februar 2019 werktags von 9 bis 18 Uhr geöffnet. Samstag und Sonntag auf Anfrage.

 

Die Frauenbilder von Hubert Kaltenmark sind auf reges Interesse gestoßen.

Bettina Wöhrmann vom Fachbereich Kunst, der Laudator Harald Ruppert und Hubert Kaltenmark im Gespräch (von links)

Bis Februar 2019 ist in Weingarten die bisher größte Ausstellung von Hubert Kaltenmark zu sehen.

Die Sängerin Chioma Lisa Rabiej umrahmte die Vernissage muslikalisch.