Die sprechende Medizin – sprachlos

Deutschland hält sich viel zugute auf seine gute Gesundheitsvorsorge; doch bei der Behandlung traumatisierter Geflüchteter in Baden-Württemberg zeigen sich noch eklatante Lücken im System.



Helmut Schröder, Diplom-Soziologe und stellvertretender Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der Allgemeinen Ortskrankenkassen (WidO) präsentierte eine Studie, die das besondere Problem von Geflüchteten offenlegte: Von den bundesweit mehr als 2000, hauptsächlich männlichen Befragten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, deren Durchschnittsalter bei knapp 33 Jahre lag und welche unterschiedliche berufliche Qualifikationen nach Deutschland mitbrachten, schätzten deutlich mehr ihren Gesundheitszustand als schlechter ein als die Vergleichsgruppe. Die meisten berichteten von traumatischen Ereignissen wie Kriegserlebnissen (60,4 Prozent), Angriffen durch Militär oder Bewaffnete (40,2 Prozent), Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit Flucht (29,2 Prozent) oder Foltererfahrung (19,0 Prozent). Bei jedem Dritten wurden Angehörige verschleppt oder sind verschwunden oder getötet worden. Nur weniger als 22,5 Prozent gaben an, keine solchen traumatischen Erfahrungen gemacht zu haben. 16,3 Prozent der Befragten hatten ein solches Trauma, 15,1 Prozent nannten zwei, 12,5 Prozent drei Traumata. 30,7 Prozent berichteten von mehr als drei Traumata. Die so vorbelasteten Befragten nannten als Beschwerden vor allem, sie seien mutlos, bedrückt und traurig (42,7 Prozent). 42,9 Prozent berichteten von großer Nervosität und Unruhe. Erst danach folgen körperliche Beschwerden. Die Erfahrungen dieser Menschen wirken also vor allem auf die Psyche.

Sprachprobleme sind die größte Barriere

Doch da fangen auch schon die Versorgungsprobleme in Deutschland an. Psychotherapie bedeutet Gespräche – sprachliche Barrieren stellen Krankenhäuser und Arztpraxen aber vor große Herausforderungen. 56 Prozent der Befragten in der WidO-Studie berichteten über die Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Ähnlich hoch (61 Prozent) ist der Anteil derer, die gar nicht wissen, welche Gesundheitsangebote ihnen überhaupt zur Verfügung stehen. Die Studie fordert deshalb, geflüchtete ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen möglichst schnell ins deutsche Gesundheitssystem zu integrieren, weil sie aus dem gleichen Kulturkreis kommen, die Sprache sprechen und deshalb besonders hilfreich sein können.

Bei der Podiumsdiskussion, die vom scheidenden Präsidenten der Landesärztekammer, Dr. Ulrich Clever mit ruhiger Hand moderiert wurde, berichtete Dr. Irme Stetter-Karp , dass die Diözese seit 2014 insgesamt 21 Millionen Euro für einen Zweckerfüllungsfonds zur Verfügung gestellt habe, um damit Überlebende von Gewalt, Krieg und Terror zu unterstützen. „Es ist unerklärlich, dass es bis heute keine zielgruppenspezifische Versorgung gibt“, kritisierte die Vizepräsidentin des Deutschen Caritasverbandes und Vorsitzende von IN VIA Deutschland, die als Leiterin der Hauptabteilung Caritas der Diözese Rottenburg-Stuttgart auch für Fragen von Flucht und Migration zuständig ist. Sie forderte, die bisherige staatliche Projektfinanzierung endlich nachhaltig zu gestalten.

Der AOK-Chef verweist auf den Gesetzgeber in Berlin

Der Vorstandsvorsitzende der baden-württembergischen AOK, Dr. Christopher Hermann, machte den Bundesgesetzgeber für die fehlenden DolmetscherInnen verantwortlich Es gebe eine stabile Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass Dolmetschen keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung sei und auch nicht als „Hilfsmittel“ wie etwa GebärdendolmetscherInnen anerkannt sei. „Der politische Druck, das zu ändern, ist nicht groß genug“, sagte Hermann. Der AOK-Chef erläuterte, dass Geflüchtete nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 15 Monate lang nur Hilfe bei akuten Erkrankungen erhalten; danach ändere sich ihr Status in „Betreute“, wenn sie nicht erwerbstätig seien. Sie erhalten dann Arbeitslosengeld II und sind Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung. Doch hier gilt: siehe oben. Dolmetscher müssen selber finanziert werden, das Sozialamt zahle nur in Ausnahmefällen. Für Hermann ist das „eine unwürdige Situation“.

Die Diplom-Psychologin Birgit Lackus-Reitter, Vorstandsmitglied der Landes-Psychologenkammer, sagte, dass 3000 der 6000 Mitglieder ihrer Kammer niedergelassen arbeiten. Der Herausforderung, die Erstversorgung schwer traumatisierter Menschen zu übernehmen, seien aber nur die psychosozialen Zentren gewachsen. Ähnlich wie bei Betroffenen von Missbrauch kämen viele der Geflüchteten oft erst sehr spät zur Behandlung, weil sie zunächst einen stabilen Status benötigten. Das bedeute aber, dass sie ihre Traumata oft jahrelang verdrängten. Lackus-Reitter bezeichnete die fehlenden DolmetscherInnen als Hauptproblem. Dies wiege um so schwerer, weil Traumatisierte schwerer Deutsch lernten als andere. Sie haben schlicht den Kopf nicht frei dafür. Deshalb hätten auch die erst relativ spät zur Behandlung kommenden Menschen größere Sprachprobleme. Lackus-Reitter forderte (Auffrischungs-)kurse für Traumatherapie für die PsychologInnen. Zur Verbesserung der Versorgung seien zudem Supervisionszirkel geplant.

Zu wenig und ungenügend finanzierte psychosoziale Zentren

Der Landtagsabgeordnete der Grünen, Daniel Andreas Lede Abal, unterstrich die Kritik von AOK-Chef Hermann, dass der Bundesgesetzgeber für die Versorgungsprobleme verantwortlich sei. Das Land habe zwei Bundesratsinitiativen gestartet, um die Gesundheitskarte auch für AsylbewerberInnen zu installieren, sei aber gescheitert damit. Bei den psychosozialen Zentren sei der sukzessive Ausbau nun immerhin gesichert.

Die Diplom-Psychologin Ulrike Schneck, die als Fachberaterin für Psychotraumatologie für die Organisation refugio das psychosoziale Zentrum in Stuttgart fachlich leitet, verwies darauf, dass es im Land genau acht solcher Zentren gebe, von denen drei noch im Aufbau begriffen seien: „Damit sind wir noch weit weg von einer flächendeckenden Versorgung“, kritisierte sie. 2015 habe es eine totale Überforderung gegeben, die Wartelisten seien derart explodiert, dass sie ganz geschlossen werden mussten. Seit 2017 stelle man eine Verschlechterung fest. Denn viele Geflüchtete benötigten Krisenintervention, die aber von Niedergelassenen nicht geleistet werden könnten und in den Psychiatrischen Kliniken fehle es an Fachabteilungen. Die Folge: Selbsttötungsversuche und Aggression hätten auch im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte über Abschiebungen nach Afghanistan stark zugenommen. Schneck kritisierte die Politik, weil sie sich weigere DolmetscherInnen zu bezahlen: „Wir können keine Diagnose ohne Sprache stellen“, sagte sie. Das Problem der psychosozialen Zentren sei, dass sie ihre Patienten aus solchen Gründen nicht weiter vermitteln könnten und deshalb völlig überlaufen seien. Aktuell bezahle das Land für die acht Zentren insgesamt nur 900 000 Euro im Jahr“ wir brauchen mindestens doppelt so viel“, forderte sie und verwies aus Hessen. Das zahle jedem Zentrum 400 000 Euro im Jahr. „Da kann das reiche Baden-Württemberg bestimmt auch deutlich mehr tun“.

(Barbara Thurner-Fromm)

 

 

Auf dem Podium (von links nach rechts) Ulrike Schneck, Daniel Andreas Lede Abal, Irme Stetter-Karp, Ulrich Clever, Birgitt Lackus-Reitter und Christopher Hermann.

Helmut Schröder stellte eine WidO-Studie zur Gesundheitsversorgung Geflüchteter vor.

Moderator Dr. Ulrich Clever bei der Diskussion mit Dr. Irme Stetter-Karp

Amüsiert hört Birgitt Lackus-Reitter dem AOK-Chef Dr. Christopher Hermann zu.

Ulrike Schneck forderte mehr Geld für die Psychosozialen Zentren. Der Landtagsabgeordnete Daniel Andreas Lede Abal (Grüne) betonte, seine Partei bemühe sich darum.