Verleihung des Aleksandr-Men-Preises 2007
Christina Weiss
Dankesrede
Die deutsch-russischen Beziehungen haben eine wechselvolle Geschichte. Wir wissen von der großen Verbundenheit zwischen dem Preußischen Königshof und dem der russischen Zaren. Wir kennen die Kunstwerke, die russische Künstler für deutsche Fürsten und deutsche Künstler und Baumeister für russische Auftraggeber schufen. Wir alle kennen die Liebe der Russen zur deutschen Klassik und die deutsche Vorliebe und Bewunderung für russische Dichter und Maler des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Uns allen gemein ist aber auch, dass wir die Schrecken, die zwei mörderische Weltkriege und die Teilung Europas über unsere Länder und Völker gebracht haben, nie vergessen dürfen und nie vergessen werden. Deutschland hat gegenüber Russland schwere Schuld auf sich geladen, die niemand relativieren kann.
Auch heute, mehr als sechzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges sind noch längst nicht alle Wunden vernarbt – zu viele Menschen haben ihr Leben oder Ihre Heimat verloren, zu vieles ist für immer zerstört. Unzählige Kunst- und Kulturschätze wurden vernichtet. Andere wurden geraubt oder erbeutet und von einem Land ins andere verbracht. Die Verständigung über Beutekunst ist mühsam deshalb, weil das Völkerrecht, dem Deutschland folgt, von der russischen Duma in diesem Punkt nicht anerkannt wird. Wer rechtlicher Eigentümer eines im Krieg verschleppten Kunstwerks ist, stößt solange auf unauflösbaren Dissens, solange auf russischer Seite die Debatte in extremer Weise bereits in den Schulbüchern dargestellt wird – Kunst als Entschädigung für die Verluste des Krieges gewertet wird – und solange auf deutscher Seite das pure Beharren auf dem Völkerrecht eine offene Auseinandersetzung um Restaurierung und Ausstellung von Kunstwerken unmöglich macht. Michail Schwydkoi und ich haben sehr darum gekämpft, die Debatte nicht nur politisch, sondern auch im Sinne der Kunstwerke führen zu können – es schien nicht möglich.
Andererseits übertrifft die Breite des deutsch-russischen Austauschs heute alles da gewesene. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben Deutschland und Russland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell eine neue Basis erreicht, auf der aus alten Gegnern neue Freunde werden konnten. Wir haben erkannt, dass wir nicht nur gemeinsame Ziele haben. Es sind vielmehr die gleichen kulturellen Wurzeln, aus denen die deutsch-russischen Beziehungen ihre Kraft und Dynamik beziehen. Sie ermöglichen Kooperationen wie die deutsch-russischen Kulturjahre 2003/2004 ebenso wie gemeinsame Ausstellungen, Konzerte und Publikationen. Die wechselseitige kulturelle Neugier ist groß, ihre Basis beflügelt überdies Kooperationen zwischen einzelnen Institutionen unserer beiden Länder und das bürgerschaftliche Engagement von Deutschen und Russen. So arbeitet zum Beispiel die Stiftung preußischer Kulturbesitz mit den Museen in Russland direkt zusammen, es gibt gemeinsame Projekte, man nähert sich an. So haben private Sponsoren aus Deutschland dafür gesorgt, dass
zum Beispiel eine Kopie des „betenden Knaben“ in den Peterhof von St. Petersburg zurückkehren konnte, dass die Kirche auf dem Wolotower Feld oder das Bernsteinzimmer restauriert und rekonstruiert werden konnte, dass der Gottdorfer Globus und die Walcker Orgel zurückkehren konnten.
Die deutsch-russischen Kulturjahre haben auch bewiesen, dass das Interesse an der Kunst – den Künsten – der Gegenwart groß ist. Auch für mich findet die Arbeit an guten kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland ein Fortsetzung: ich berate die Deutsche Bank in Sachen Kultur und bin deshalb auch selbst engagiert an der Fortentwicklung des neu gegründeten Kandinsky-Preises für zeitgenössische russische Kunst. Ich bin im Vorstand des Suhrkamp Verlages, der gerade unter großer Beachtung den Roman „Das Puschkinhaus“ von Andrej Bitow in neuer vollständiger Übersetzung von Rosemarie Tietze herausgebracht hat. Dieses Buch kann wie die Literatur so oft weitaus mehr Verständnis lehren als Geschichtsbücher.
Die Geschichte eines Helden der Sowjetzeit, der sich durchlaviert – dessen Leben nur durch die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts Halt und Sinn erhält, während er sich vor der Gegenwart wegduckt – aus Angst – aus Ratlosigkeit.
Bitow in einem Interview:
„Der ideologische Druck von oben hatte keinen Geist. Das Volk ist gutgläubig, es hat Geist und Glauben in dieses System investiert. Es ist betrogen worden. Die Deutschen müssten das verstehen. Sie sind auch Idealisten. Das Hauptverbrechen der Sowjetunion war das gegen den natürlich menschlichen Idealismus.“ (Die ZEIT vom 9.10. 2003)
Die Begegnung über die Künste ist die intensivste Weise, sich gegenseitig begreifen zu lernen, etwas über die Gefühle des anderen Volkes zu erfahren, die Gedankenwelt, wie sie sich aus der Geschichte in die Gegenwart hinein entwickelt hat, kennen zu lernen und eine Ahnung davon zu erhalten, welche Visionen die Nachbarn zu welcher Zukunft beflügeln. Wir begegnen uns über die künstlerischen Äußerungen deshalb so unverstellt und intensiv, weil es die Künstlerinnen und Künstler sind, die mit ihren Gedanken und Äußerungen an die Grenze der Gegenwart heranreichen und sie überschreiten. Große Kunst geht bis zum Äußersten, sprengt die bereits eingeübten Erfahrungen und reicht in ein Jenseits der vom gesellschaftlichen Konsens gezogenen Grenzen. Verleiht den Wörtern und Bildern wieder ihre eigene Ausdruckskraft jenseits des Mißbrauchs durch Politik und Alltag. Mit dieser Kraft, mit der Kunst Grenzen zu sprengen vermag, gleicht sie in gewisser Weise der Religion, dem Denkfeld, für das Aleksandr Men sich eingesetzt hat.
Die Instrumente von Religion und Kunst sind die sinnlich aufgeladenen Zeichen mit offener Bedeutung, Worte, Bilder, Klänge, Gesten, die der Fähigkeit zur Imagination neue Welten ablocken. Die Instrumente der Religion und der Kunst sind gleichermaßen tauglich, ein Staatssystem affirmativ zu stützen wie dazu in Opposition zu gehen und Alternativen zu öffnen.
Die Aufgabe allerdings – darin sind wir uns gewiss einig – die Aufgabe von wirklich bedeutender Kunst besteht darin, neue Weltsichten zu erschließen, es geht nicht darum, vorhandene Ideologie zu bestätigen, es geht nicht darum, Vorurteile zu festigen. Mit unerwarteter und ungewohnter Erfahrung verbunden ist es, Distanz zu sich selbst finden und zugleich sich besonders schonungslos auf sich selbst, eigene Gefühle, Reaktionen und Vorurteile einzulassen. Der Appell zur kritischen Distanz mit vorgefundener Wirklichkeit ist unabdingbar für Religion und Kunst.
Weil mir diese gedankliche Verbindung sehr wichtig ist, fühle ich mich um so mehr geehrt durch den Aleksandr-Men-Preis und ermutigt, weiterhin für die Einsicht zu kämpfen, dass die Künste uns trainieren für die Freiheit des Denkens, für den Mut, eine eigene Meinung zu haben und zu äußern – gleichgültig, welchen Gefahren wir dadurch ausgesetzt sein mögen.
Es gilt das gesprochene Wort!
Programm
Begrüßung der Gäste
Dr. Jekaterina Genieva
Generaldirektorin der Allrussischen Staatlichen M.-I.-Rudomino-Bibliothek für ausländische Literatur, Moskau
Grußwort
Walter Jürgen Schmid
Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation
Grußwort
Dr. Abraham Peter Kustermann
Direktor der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Laudatio
Michail Schwydkoj
Leiter der Föderalen Agentur für Kultur und Kinematografie der Russischen Föderation
Laudatio
Michail Men
Gouverneur des Gebietes Iwanowo
Preisverleihung
Dankesworte
Prof. Dr. Christina Weiss
Staatsministerin a.D. für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt (2002 – 2005)
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