Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 2002

Anatoli Pristawkin

Grußwort

Weihbischof Dr. Johannes Kreidler

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
nicht zum ersten Mal fällt es mir zu - als durchaus angenehme Pflicht - , für die Diözese Rottenburg-Stuttgart ein freundliches Willkommen zur Verleihung des Aleksandr-Men-Preises zu entbieten. Unser Diözesanbischof Dr. Gebhard Fürst ist heute unabkömmlich verhindert. Seiner Initiative ist die Stiftung des Aleksandr-Men-Preises ja nachhaltig zu verdanken. Seine Aufmerksamkeit dafür ist ungebrochen. Er lässt Sie alle herzlich grüßen.

Nicht zum ersten Mal stehe ich also unter diesem Porträt von Erzpriester Aleksandr Men bzw. saß ihm zuvor einige Augenblicke gegenüber - immer wieder bewegt und tief beeindruckt. Wir wissen: der Schnappschuss eines Amateurs, nicht lange vor seinem gewaltsamen Tod aufgenommen, kein "gestyltes", kein gesetztes Bild. Und vielleicht eben darum - mehr als ein Gesicht: ein Antlitz. Ein alles Äußere in sich sammelnder Blick, zugleich ein dramatischer und doch auch wieder distanzierter Zug konzentrierten Nachdenkens, ein Schauen auf einen nicht sehr fernen Punkt, mit einem Schuss melancholischer Verlorenheit vielleicht, als sinne der Schauende darüber nach, wie er die Welt, die er dann bald verlassen musste, in die Hand Gottes hinein bergen könne. Ein Blick voller Fragen, ein Schauen nicht ohne Hoffnung.

Glücklicherweise wissen wir heute über diesen Priester der russischen-orthodoxen Kirche mehr, als was wir an Deutungen seines Porträts - an Treffendem oder Unzutreffendem - gewinnen mögen. Zwar bei Weitem noch nicht genug, weil eine Übersetzung seiner Schriften ins Deutsche, wenigstens seiner Schlüssel-Texte, sich noch immer nicht abzeichnet. Aber dank einer Übersetzung der auf Französisch verfassten Biografie seines Freundes Ives Hamant ins Deutsche (München 2000) doch immerhin viel mehr als vordem - viel mehr über sein Leben, viel mehr über sein Denken, viel mehr von seiner Hoffnung.

Unsere Diözese hat sich das Gedenken an Vater Aleksandr Men schon bald nach seinem Tod in besonderer Weise zu eigen gemacht: eben durch den mit seinem Namen verbundenen Preis, den die Akademie unserer Diözese - federführend in der Jury - zu vergeben bestimmt ist. Und wir hoffen, dass dieses Gedenken, diese "pamjat", auf Dauer als Zeichen einer dialogbereiten Ökumene verstanden werden möchte. Kein Gedanke wäre uns fremder als der: euer "Ketzer" - unser "Heiliger".

In diesem Sinne mag es mir erlaubt sein, hier das letzte öffentliche Wort von Erzpriester Aleksandr Men in Erinnerung zu rufen. Es passt gut zu diesen adventlichen Tagen:

"Wenn wir uns noch einmal fragen, was das Wesen des Christentums ist, müssen wir antworten: es ist die Gott-Menschheit, die Einheit des unendlichen und zeitlich begrenzten menschlichen Geistes mit dem unendlichen Göttlichen. Es ist die Heiligung des Fleisches; denn seitdem der Menschensohn unsere Freuden und Leiden angenommen hat, ist alles, was wir tun, unsere Liebe, unsere Arbeit, die Natur, die Welt, alles in das hinein der Gott-Mensch geboren wurde und was er dort angetroffen hat, dies alles ist nicht verworfen, nicht gedemütigt, sondern auf eine neue Ebene gehoben. Im Christentum ist die Welt geheiligt; das Böse, die Dunkelheit, die Sünde sind besiegt. Aber es ist der Sieg Gottes. Dieser Sieg hat in der Nacht der Auferstehung begonnen und er wird fortdauern, solange die Welt besteht". [Hamant, S. 139]

Der Aleksandr-Men-Preis wird heute zum achten Mal verliehen: heute in dieser festlichen Versammlung an Sie, sehr verehrter Herr Professor Pristawkin. Ich begrüße Sie hier in Stuttgart sehr herzlich, zusammen mit Ihrer Frau, und beglückwünsche Sie - persönlich wie in Namen unserer Diözese - mit freudiger Zustimmung zur Wahl der Jury.

Ich weiß nicht, wie intensiv, wie oft oder ob überhaupt sich Ihr Lebensweg gekreuzt hat mit dem von Vater Aleksandr Men. Aber dass Sie einander Brüder im selben Geist sind, liegt auf der Hand. Ihnen waren und sind andere Mittel und Gaben geschenkt, auch andere Aufgaben gestellt als ihm. Ihr in der Tiefe berührendes Medium, Ihre ureigenste Begabung ist das schriftstellerische Wort, ist das Schreiben, das die Wirklichkeit "stellt": darstellt, feststellt, festhält, erinnert, beurteilt, nahe bringt - im Moment höchster, lichtvoller Freude (besonders kindlicher Freude) ebenso wie im Moment abgründigster, düsterster Qual (besonders kindlicher Qual). Leben und Tod stehen in Ihren Texten immer in hartem Kontrast gegen einander, aber immer und eindeutig versehen mit Ihrem protestativen Kommentar: mit Ihrem Plädoyer zugunsten des Lebens und gegen alle Unmenschlichkeit.

Unter dieser Perspektive vermitteln Sie, sehr verehrter Herr Pristawkin, Realitäten des Russland der Gegenwart (mitsamt seiner Vergangenheit) an uns Deutsche, wie in der Preisbegründung formuliert ist. Also: unter der Perspektive der Veränderung zum Besseren, in der Hoffnung auf Wendung aller Verhältnisse zum Humanen, im Eintreten für die Gottebenbildlichkeit aller menschlichen Kreatur.

Ein russisches Problem, ein deutsch-russisches Problem? Nein - ich meine: ein universales, dem Sie, verehrter Herr Pristawkin, mit Ihrer literarischen Begabung und Ihrem humanitären Wirken eine Antwort angedeihen lassen, die dem Gewicht der universalen Herausforderung entspricht.

Möge der Aleksandr-Men-Preis des Jahres 2002 Sie auf diesem Weg begleiten und bestärken!


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Begrüßung
Dr. Abraham P. Kustermann,
Akademiedirektor

Grußwort
Dr. Johannes Kreidler,
Weihbischof, Diözese Rottenburg-Stuttgart

Grußwort
Dr. Ekateria U. Genieva,
Generaldirektorin der Allrussischen Bibliothek für Ausländische Literatur, Moskau

Grußwort
Boris Chlebnikow,
Vizepräsident der Europäischen Akademie für Zivilgesellschaft, Moskau

Laudatio
Thomas Reschke,
Literatur-Übersetzer, Berlin (Übersetzer von A. I. Pristawkin)

Preisverleihung
Hermann Fünfgeld,
Stv. Vorsitzender des Kuratoriums der Akademie der Dözese Rottenburg-Stuttgart

Dankesworte
Anatoli I. Pristawkin

Bericht aus der Stuttgarter Zeitung

Bericht aus den Stuttgarter Nachrichten



Über Anatoli Pristawkin:

Lebenslauf Pristawkins

Preise und Auszeichnungen

Bibliografie

Weitere Informationen zu Anatoli I. Pristawkin auf Wikipedia


Über Thomas Reschke:

Lebenslauf Reschkes

Auszeichnungen

Wichtigste Übersetzungen