Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 2002

Anatoli Pristawkin

Grußwort

Ekateria U. Genieva

Liebe Freunde,

wir haben uns heute versammelt, um schon zum achten Mal den internationalen Aleksandr-Men-Preis zu vergeben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um noch ein Mal zu sagen: in all den Jahren verließ die Bibliothek für Internationale Literatur und mich als deren Generaldirektorin, nicht das Gefühl des Stolzes darauf, dass die Bibliothek - gemeinsam mit der Zeitschrift für Internationale Literatur und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die uns heute empfängt, - Mitbegründer und Mitverleiher dieses Preises ist.

Mit dem Aleksandr-Men Preis werden diejenigen ausgezeichnet, die einen großen persönlichen Beitrag zur Völkerverständigung und zum Dialog der Kulturen im ganzen - sowie zur Verständigung und freundschaftlichen Austausch der geistlichen und kulturellen Werte zwischen den Deutschen und den Russen im einzelnen - leisten und geleistet haben. Über diese Seite der Tätigkeit unseres heutigen Preisträgers, Anatoli Ignatievich Pristawkin, wird unser geehrter Laudator und ausgezeichneter Übersetzer der russischen Literatur, Thomas Reschke erzählen. Ich möchte jedoch auf den heutigen festlichen Anlass hin einen etwas anderen Akzent setzen.

Innerlich zurückkehrend zu unseren Preisträgern habe ich eine interessante Regelmäßigkeit festgestellt: Von der deutschen Seite waren die Preisträger: Katinka Dittrich van Wering als Erbauerin und Organisatorin der Kultur , der Slavistik-Wissenschaftler Wolfgang Kasack, der Journalist und Politologe Gerd Ruge, sowie der Staatsmann Otto Graf Lambsdorff. Von der russischen Seite - genauer: von der Seite des ehemaligen Sowjetunion hat diesen Preis nur ein Staatsmann erhalten: Michail Sergejewitsch Gorbatschew; alle anderen - der schon leider verstorbene Lev Kopelew, Tschingis Ajtmatow und der heutige Preisträger Anatoli Pristavkin - sind Schriftsteller. Dieses Paradoxon kann ich nur damit erklären, dass in Russland zur allen Zeiten, wie zur Zeiten der Russischen Imperiums und während des sowjetischen Regimes, Schriftsteller Funktionen übernommen haben, die über ihre Tätigkeit als Dichter hinausgingen. Sie waren die Stimme der Nation, das Gewissen der Nation, in ihren Werken zeigten sie geistliche und bürgerliche Bestrebungen. Eine berühmte Formel von Evgenij Jewtuschenko "Dichter in Russland ist mehr als Dichter" hat schon lange ihr einen von allen anerkannten, Platz, aber wenn man darüber nachdenkt, ist sie in ihrer Weise gerecht. Dabei ist "der Dichter" in umfassenden Sinne zu verstehen - als Mensch, der der Literatur dient und sie als seine Berufung versteht.

Eben darüber hat ein Mal der große Puschkin in seinem Gedicht "Ich habe mir einen Denkmal erbaut..." geschrieben, als er in genialer Weise sein Schicksaal nach dem Tod voraussah. Was hat er denn sich als Verdienst zugeschrieben:


Dass in meinem schrecklichen Jahrhundert ich die Freiheit lobte

Und zur Barmherzigkeit zu den Verstoßenen gerufen habe.


In der von der Zensur gebilligten Ausgabe war die Zeile über das "schreckliche Jahrhundert" und die Freiheit vertauscht, wahrscheinlicht, als nicht mit der Epoche übereinstimmend, aber die nachfolgende Zeile blieb unberührt. Zar Nikolaj I. kannte die Bergpredigt: "Selig sind die Bahrmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden" (Matth 5,7).

Puschkin hat als erster die Barmherzigkeit zur Kunst- und Lebensphilosophie gemacht, weil er über die Barmherzigkeit als über den Beistand und als über geistliche und bürgerliche Glückseligkeit gesprochen hat. In der ursprünglichen Variante lesen sich die Zeilen wie folgt:


Dass dem Radischtschew hinterher ich die Freiheit lobte

Und Barmherzigkeit besang.


Russische Schriftsteller haben vor und auch nach Puschkin Barmherzigkeit in der Seele und in den Taten gepredigt und gebeichtet. Anatoli Pristavkin ist würdig in diese, viele Jahrhunder alte Tradition, eingegangen: wie ein Dichter - durch seine Bücher und wie ein Mensch - durch seine Tätigkeit im Begnadigungssausschuss beim Präsidenten der Russischen Föderation, an deren Spitze er in den Jahren von 1992 bis 2001 gestanden hat.

Wie viele anderen Zeitgenossen, Kinder der Kriegsjahre, hat Anatoli Pristavkin erfahren, was es heißt, in einem Heim für Weisenkinder aufzuwachsen. Er hat Unterstützung und Mitgefühl erfahren, was ihm (und nicht nur ihm) damals geholfen hat, zu überleben. Er hat dies die "Stafette der Barmherzigkeit" genannt: dass derjenige, der Barmherzigkeit erfahren hat, diese seinerseits den anderen zeigen und weitergeben muss. Ich möchte ihn mit seinen eigenen Worten zitieren: "... solange die Möglichkeit besteht, jemanden zu retten, solange dies von mir abhängt, werde ich es tun".

Hier ist es nicht notwendig, die Bedeutung, die Rolle und die Bestimmung der Barmherzigkeit am Anfang des trüben ersten Jahrhundert des neuen Jahrtausend zu erklären. Die beispiellose und erbahrmungslose Verbreitung des internationalen Terrorismus verlangt nach Gegenmaßnahmen, weil es um den Schicksaal der ganzen menschlichen Zivilisation geht. Aber dafür müssen wir alle, die diesseits der Frontlinie stehen - Völker und Staaten - mit einer noch nicht erfahrener Offenheit und Deutlichkeit unsere Gemeinsamkeiten deutlich machen. Bahrmharzigkeit ist dazu bestimmt, zu einer Philosophie des XXI. Jahrhundert zu werden, weil nichts anderes die Menschen einander so nahe bringt wie die Barmherzigkeit, weil sie höher als alles andere steht - sogar als die Gerechtigkeit.

Das hat der Retter am Anfang der neuen Ära gelernt.

Dies predigte in letztem Jahrhundert Vater Aleksander Men.

Dem dient Anatoli Pristavkin, deswegen vergeben wir ihm heute den internationalen Aleksandr-Men Preis.


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Begrüßung
Dr. Abraham P. Kustermann,
Akademiedirektor

Grußwort
Dr. Johannes Kreidler,
Weihbischof, Diözese Rottenburg-Stuttgart

Grußwort
Dr. Ekateria U. Genieva,
Generaldirektorin der Allrussischen Bibliothek für Ausländische Literatur, Moskau

Grußwort
Boris Chlebnikow,
Vizepräsident der Europäischen Akademie für Zivilgesellschaft, Moskau

Laudatio
Thomas Reschke,
Literatur-Übersetzer, Berlin (Übersetzer von A. I. Pristawkin)

Preisverleihung
Hermann Fünfgeld,
Stv. Vorsitzender des Kuratoriums der Akademie der Dözese Rottenburg-Stuttgart

Dankesworte
Anatoli I. Pristawkin

Bericht aus der Stuttgarter Zeitung

Bericht aus den Stuttgarter Nachrichten



Über Anatoli Pristawkin:

Lebenslauf Pristawkins

Preise und Auszeichnungen

Bibliografie

Weitere Informationen zu Anatoli I. Pristawkin auf Wikipedia


Über Thomas Reschke:

Lebenslauf Reschkes

Auszeichnungen

Wichtigste Übersetzungen