Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 2002

Anatoli Pristawkin

Dankensworte

Anatoli I. Pristawkin

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Sehr geehrter Herr Direktor Kustermann,
Sehr geehrte Damen und Herrn, liebe Kollegen!

Erlauben sie mir zunächst Ihnen dafür zu danken, dass Sie mir so einen bedeutenden Preis verliehen haben, der den Namen des Vater Aleksandr Men trägt. Die Erinnerungen an ihn sind für mich und für alle heilig. Ich hatte leider keine Gelegenheit, Vater Aleksandr Men persönlich kennenzulernen, aber zwei seiner Schüler und Nachfolger - Priester Alexander Borisov und Vladimir Ilüschenko - haben in unserer Begnadigungskommission gearbeitet. Ihre Bücher, die sie ihrem Lehrer gewidmet haben, geben die Möglichkeit, sich den moralischen Höhen zu nähern, die er mit dem Preis des eigenen Lebens erreicht hat.

"Das Licht, das von ihm ausging, konnte man fast physisch fühlen", schreibt Ilüschenko. "Er zeigte uns Christus, und in vielem wiederholte er Seinen irdischen Weg. Genau deswegen war er verdammt: unsere Welt duldet kein Heiligtum." Den Mörder von Vater Men hat man bis heute nicht gefunden. Aber die ganze Geschichte der Menschheit, wenn man sie nüchtern betrachtet, ist ununterbrochen ein teuflicher Versuch der dunklen Mächte, den nächsten Heiligen zu kreuzigen.

In der Reihe der Persönlichkeiten, die Preisträger des Aleksandr-Men-Preises geworden sind, möchte ich einen Namen ganz besonders hervorheben, der auf mein Leben und Wirken einen ganz besonderen Einfluss genommen hat - Lev Kopelew. Er hat einen langjährigen Weg durch die stalinistischen Lager durchgemacht und ist dabei nicht zerbrochen. Mit ihm und mit seiner Weggefährtin Raja Orlowa verband mich eine lange persönliche Freundschaft. Ich habe immer noch Briefe, die auf dünnem Papirossipapier geschrieben wurden, die heimlich aus Deutschland geschmugelt wurden, nachdem sie aus Russland ausgewiesen worden waren, und auf genauso solchem Papier schrieb ich die Antwort. Als man mir zum ersten Mal erlaubte, ins Ausland zu reisen, haben wir uns 1989 in München getroffen, genau gesagt vereinigt, und Lev Kopelew hat dem Verlag Albrecht Knaus mein Buch "Nächtigte ein goldenes Wölkchen" empfohlen.

Ich bin der Meinung, dass Kopelews Leben, an den man sich in Deutschland mehr erinnert und den man hier mehr schätzt als in Russland, der zusammen mit Bell den ersten Stein des Fundaments für das Bau des gemeinsamen Haus Europa gelegt hat, als leuchtendes Vorbild für das Bemühen um eine Verständigung zwischen unseren Ländern dienen kann.

Ich hatte nicht das Glück, von Kindheit an die deutsche Sprache zu lernen. Zu dieser Zeit lernte ich, auch wenn es gezwungenermassen geschah, die Sprache der Straßen, die Sprache der Gefängnisse. Mehr als dies: Für mich war damals Deutsch die Sprache des Feindes, der meine Großmutter umbrachte und mich für viele Jahre von meinem Vater trennte. Aber eines Tages begegnete ich einem Lehrer in einem Waisenhaus, wo es damals viele gebildete Menschen der silbernen Zeiten gab, die nicht in das Sowjetsystem paßten, sie durften nur in den schmutzigen und gefährlichen Kolonien für Straßenkinder arbeiten... Also, dieser Lehrer las mir eine Zeile von Goethe: "Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heide." Auch wenn ich die fremde Sprache nicht kannte, habe ich aus irgendeinem Grund verstanden, worüber dieses Gedicht handelte, ich war von ihm überwältigt. In meiner wilden Umgebung der Banden, der Müllkippen, der Schwarzmärkte und des Hungers wuchsen keine Rosen. Durch mein ganzes Leben habe ich diese wunderbare Zeilen wie ein kostbares Geschenk in meinem Gedächtnis getragen. So begann meine Annährung an die deutsche Sprache und Kultur.

Manchmal werde ich gefragt, wie ist es uns gelungen, uns in Zeiten des Krieges zu retten und zu überleben. Damit möchte ich antworten: Uns haben nicht nur Brotstücke, sondern auch Gedichte wie diese gerettet. Ob die Schönheit - laut Dostojevskij - die Welt retten wird, weiss ich nicht, mich hat sie aber gerettet. Nicht nur das Gedicht über die Rose, sondern auch Bücher, die es gelang zu bekommen. Im Waisenhaus zu Kriegszeiten war ein Buch eine fantastische Seltenheit, vielleich sogar mehr als zur Zeiten der Erfindung der Druckmaschine von Gutenberg. Um ein Mal ein Buch lesen zu können, ich rede gar nicht davon, ein Buch besitzen zu können, musste man nicht nur mit einer Tagesration Brot bezahlen.

Mein erstes Buch in meinem Leben habe ich mit zehn Jahren erhalten, aber wenn ich ehrlich sein soll, habe ich es aus einem brennenden Haus, in der Ortschaft wo ich lebte, gestohlen. Wir Straßenkinder, gelangten ohne Angst zu haben, dass die Balken in dem brennenden Haus auf uns stürzen würden, hinein in der Hoffnung, etwas Essbares zu finden, und ich habe zufällig dieses brennende Buch entdeckt. Das war ein Main Raid " Reiter ohne Kopf". Ich habe das Buch immer bei mir mitgetragen und die Gestalt der ungerechten Kugel, die von dem Mörder mit drei "K": Kapiten Kassij Kalchuan (schon so lange her, aber ich kann mich immer noch errinern!) versehen wurde, ist für mich zum Symbol des Bösen geworden.

Vielleicht fing ich deswegen an zu schreiben, damit ich den anderen mit einem Wort, mit einem Buch, so, wie mir damals selbst, helfe, sich von der Gewalt und von dem Bösen zu schüzen. Ich halte es immer noch für das wichtigste Ziel meines Lenben.

In Berlin in diesem Sommer ging ich oft über den Platz, wo in den Asphalt eine Glasscheibe eingeprägt ist, die die Stelle zeigt, wo zu Hitlerzeiten Bücher in Massen verbrannt wurden. Aufnahmen aus der Zeit, aus den Büchern loderndes furchtbares Feuer, haben sich in meinem Gedächtnis als Mord an der Kultur eingeprägt, ohne die die Zivilisation sterben würde. War aber die Berliner Mauer, deren Spuren ich ab und zu entdecke, wenn ich durch Ihre Hauptstadt spazierengehe, nicht ebenso ein Symbol für Gewalt und Vandalismus unter den Menschen?

Ich hatte vor vielen Jahren zu Zeiten des Mauerfalls das Glück, zum ersten Mal in Berlin zu sein und ein Zeuge des Falles eines der schrecklichsten Symbole des Kalten Krieges zu werden. Jeder, der nur ein Mal dieses monströse Bauwerk gesehen hat, kann sich vorstellen, wie diese schöne Stadt mit einer schrecklichen Hand in zwei Hälften geteilt wurde, man schnitt in lebendiges Fleisch: das schreckliche graue Monster ging nicht nur durch die schönsten Viertel der Stadt, Straßen und Plätze, sondern auch durch die Schicksale der Menschen. Wievielen hat sie das Leben gekostet!

Keiner konnte sich damals vorstellen, wie auf einmal, unter dem Druck der Massen von beiden Seiten, die Mauer, die den eisenen Vorhang wiederspiegelte, zusammenbricht, und Menschen, über die Trümer gehend, werden auf einmal normal mit einander reden konnen. Als Literat habe ich Deutschland und seine Kultur nie in West und Ost geteilt, ich war ein Autor, zum Beispiel, von solchen Großverlagen wie "Bertelsmann" oder dem berühmten "Fischer", aber eine aufrichtige Freundschaft ist mit dem Übersetzer und Slavisten Thomas Reschke entstanden. Thomas, hat für "Volk und Welt" gearbeitet. Einmal kurz vor Silvester rief er mich und meine Frau in Moskau an, und sagte: "Tolja, Sie kennen mich nicht, ich bin Ihr Übersetzer aus Berlin. Ich habe jetzt Ihr "Wölkchen" zur Ende übersetzt, ich sitze hier und weine".

Der Verlag, den ich Mitte der 80er Jahre kennen gelernt habe, war eng mit vielen Schriftstellern Russlands verbunden, durch künstleriche Vereinigungen, Kulturzentren. Außerdem hatte er einen wunderbaren Übersetzerstab. Thomas Reschke und seine Frau Renata, die auch Übersetzerin ist, Redakteurin Kristina Links - sind sehr gute Kenner der russischen Kultur. Reschke hat mehr als 150 russische Autoren übersetzt, darunter die sehr anspruchsvollen Texte von Andrey Platonov. Später haben sie die in der Welt einzigartige fünfzehnbändige Werkausgabe von Michail Bulgakov übersetzt und bei "Volk und Welt" herausgegeben. Bei uns in Russland gibt es so etwas nicht - man sollte es fast als Grundlage nehmen, um den großen russischen Schriftsteller zurück ins Russische zu übersetzen.

Unter dem Druck der neuen Marktwirtschaft brachen für "Volk und Welt" nicht gerade die besten Zeiten an. Auch wenn Günter Grass, Lev Kopelew und ich öffentlich auftraten, um ihn zu unterstützen, waren unsere vereinzelten Stimmen schwächer als die damalige Realität - sowohl die russische als auch die deutsche. Es sind wenige russische Autoren auf dem Büchermarkt geblieben, Kontakte der kulturellen Hörsäle entstehen leider nicht so oft, wie man es sich wünscht. Natürlich führten Entusiasten in Deutschland, so wie die Familie des Dortor Scheleke aus Dresden oder Barbara Rarhof aus der alten Universitätstadt Marburg die kulturellen Beziehungen fort.

Mit einer großen Dankbarkeit erinnere ich mich an den Leiter des Literarischen Kollektivs in Berlin-Wannsee, Ulrich Janetzkij und seine Mitarbeiter, die aktiv einigen russischen Schriftstellern halfen, künstlerisch zu arbeiten. Für mich persönlich hat dieses Hilfe sehr viel gebracht, nur dank ihr konnte ich mein letztes Buch über das kriminelle Russland zu Ende schreiben. Im März 2003 erscheint die deutsche Version dieses Romans im Verlag "Luchterhand" in München.

Und dennoch, das Leben geht weiter: ungeachtet dessen, dass in der Literatur und Fernsehen eine gewisse Veramerikanisierung festzustellen ist, das Interesse Europas an der Kultur Russlands wächst. Ganz normale tägliche Kontakte zur deutschen Schulern, Studenten und Künstlern zeigen, dass es im Land eine gewisse Anziehung zur russischen Sprache und Kultur gibt.

In dieser Hinsicht nimmt die deutsche Botschaft in Russland nicht nur eine aktive, sondern auch eine vorantreibende Position ein. Nach der persönlichen Initiative des Botschafters von Studniz, der seinen Aufenthalt in Moskau im Sommer dieses Jahres beendete, fanden in der Residez auf der Povarskoj mittlerweile berühmte künstlerische Treffen statt, die gegenseitige Kontakte der Kulturschaffenden zum Ziel hatten. Ich kann mich erinnern, dass der Botschafter wunderbare deutsche Schauspieler nach Moskau eingeladen hat - und wir bekammen eine sehr schöne Ausführung der Songs aus der "Drei-Groschen Oper" von Brecht geschenkt. Immer noch klingt in meiner Seele Boris Pasternak, der auf einem der literarischen Abende auf Russisch und auf Deutsch gelesen wurde. Mir persönlich aber hat sich ein Treffen auf der Povarskaja eingeprägt, das Treffen mit Bundeskanzler Gerhard Schröder, seine Interesse zur unserer Literatur, und seinen nachfolgenden Brief, den ich erhalten habe - mit dem Ausdrück der Dankbarkeit für das gelesene Buch, das ich ihm geschenkt habe.

Ich möchte Ihnen Herr Botschafter bestätigen, dass Ihr Nachfolger in Moskau, Herr Botschafter von Plötz, die kulturelle Staffel schon übernommen hat. Die deutsche Botschaft unterstützt gemeinsam mit den deutschen Stiftern - Vertretern der großen Firmen - junge Opersänger. Und zum 175 jährigen Jubiläum seit dem Todestag von Bethoven verlief mit großen Erfolg ein Konzert des Russischen Nationalorchester im Moskauer Konservatorium, das von der Botschaft und vom Goethe-Institut organisiert wurde.

Über die Tätigkeit der deutschen Stifter in Russland möchte ich ganz besonders etwas sagen. Die Vereinigung der deutschen Wirtschaft (Vorsitzende - Frau Andrea von Knoop) verbindet nicht nur bedeutende Geschäftsleute, sondern auch Schätze der russischen Kultur. Sie haben einen Vasiliy-Zhukovskiy-Preis gegründet, der für die beste Übersetzung aus dem Deutschen ins Russische verliehen wird, sie helfen auch besonders begabten Kindern - Musikern aus der Vladimir-Spivakov-Stiftung.

Noch vor zwei Jahren, im Rahmen des Besuches des Ministers für Kultur Deutschlands, luden Herr Minister und Herr von Studniz zu einem Treffen einige bekannte russische Literaten, um am runden Tisch zu diskutieren, wie wir die kulturellen Beziehungen der beiden Länder gestalten sollen. Die Diskusion war hitzig, wir haben das Vergessen der früheren Beziehungen beklagt. Damals habe ich aus Spaß geschrieben, dass alle Hoffnungen auf der Jugend ruhen - auf meiner Tochter und ihren Freunden: In der Schule geben sie eine Zeitung heraus, wo mein Kind eine Rubrik "Spaziergänge durch Deutschland" führt, dies festigt kulturelle Kontakte.

Heute wird der Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland Bedeutung auf der Staatsebene beigemessen, dieses Thema wurde behandelt bei dem Treffen der Staatschefs beider Länder in Weimar. 2003 wird das Jahr der russischen Kultur in Deutschland, 2004 wird Russland deutsche Kulturschaffende empfangen. In Oslo sagte unser Präsident nach dem Treffen Bundeskanzler Schröder: " Ich werde mit großer Freude an der Eröffnungszeremonie in Berlin teilnehmen."

Mit freundlichen Gefühlen zu Iherm wunderbaren Land, zu seinen Menschen, kreuz und quer durchfahrend Deutschland (die genaue Karte der bemerkenswerten deutschen Autobahnen ist in unserer Familie immer greifbereit) kann ich endlos über meine deutsche Freunde erzählen - über die, die seinen geistigen und kulturellen Reichtum ausmachen. Ach ja, genau in der Residenz auf der Povarskoj hatte ich die Ehre eine der schönsten Enthusiasten - die Gräfin Alexandra von Lambsdorff und später ihren Mann, den im vergangenen Jahr mit dem Aleksandr-Men-Preis geehrten Graf Otto von Lambsdorff - kennen zu lernen.

Vor wenigen Jahren war meine Tochter einfach überwältigt vom Berliner Viertel der "Hackeschen Höfe", die nach der Wiedervereinigung wiederaufgebaut worden sind, die ihr Thomas Reschke zeigte. Sie beginnen in ehemaligen West-Berlin und gehen weiter nach Osten. Mascha war damals ganz klein und ihr schien es so, dass nach dem siebenten Hof sich der achte öffnet, und dort noch einer und noch einer... Wenn wir schon in einer Welt geboren worden sind, wo es eine Mauer gab, die uns mit Tomas trennte, dann sollen die Kinder keine Angst vor dieser Welt haben, der freiwillig und endlos, wie dieser Hof, sich vor ihnen öffnet.

Eben mit der Aufklärung und dem Zusammenwirken beschäftigen sich die Gründer des Aleksandr-Men-Preises. Zwischen uns ist jetzt keine Berliner Mauer mehr, nicht in der Form, in der sie die Trennung der Welten bedeutete, aber ihre gewisse Ähnlichkeit existiert noch in unserem Verstand. Und wir müssen sie von beiden Seiten "durchbrechen", damit ein Dialog entsteht, ohne den kein Kulturraum im gemeinsamen Europa entstehen kann.

Um am Schluss Aleksandr Men zu zitieren: "Barrieren zwischen reichen nicht bis zu Gott". Was kann noch höher sein, als dieses Testament zu erfüllen.


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Begrüßung
Dr. Abraham P. Kustermann,
Akademiedirektor

Grußwort
Dr. Johannes Kreidler,
Weihbischof, Diözese Rottenburg-Stuttgart

Grußwort
Dr. Ekateria U. Genieva,
Generaldirektorin der Allrussischen Bibliothek für Ausländische Literatur, Moskau

Grußwort
Boris Chlebnikow,
Vizepräsident der Europäischen Akademie für Zivilgesellschaft, Moskau

Laudatio
Thomas Reschke,
Literatur-Übersetzer, Berlin (Übersetzer von A. I. Pristawkin)

Preisverleihung
Hermann Fünfgeld,
Stv. Vorsitzender des Kuratoriums der Akademie der Dözese Rottenburg-Stuttgart

Dankesworte
Anatoli I. Pristawkin

Bericht aus der Stuttgarter Zeitung

Bericht aus den Stuttgarter Nachrichten



Über Anatoli Pristawkin:

Lebenslauf Pristawkins

Preise und Auszeichnungen

Bibliografie

Weitere Informationen zu Anatoli I. Pristawkin auf Wikipedia


Über Thomas Reschke:

Lebenslauf Reschkes

Auszeichnungen

Wichtigste Übersetzungen