Verleihung des Alesandr-Men-Preises 2002

Anatoli Pristawkin

Begrüßung

Dr. Abraham P. Kustermann

Ein erster Gruß, meine Damen und Herren, sollte in der Sprache dessen entboten sein, der uns heute hier zusammenführt: Vater Aleksandr Men. Aus Russland, aus Deutschland - ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen!

Vor allem und vor allen begrüße ich in respektvoller Verneigung vor Person und Werk und in großer Freude über eine aufs Neue bekräftigte Freundschaft zwischen Russland und Deutschland sehr herzlich den diesjährigen Laureaten des Aleksandr-Men-Preises für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland im Interesse des friedlichen und humanen Aufbaus des Europäischen Hauses, Herrn Professor Anatoli Ignatjewitsch Pristawkin aus Moskau, zusammen mit seiner Frau Marina Pristawkina!

Im Vorwort eines zu Anfang nächsten Jahres erscheinenden Buchs von Anatoli Pristawkin wird zu lesen sein:

Was sind wir nur für Menschen? Wir erregen uns erst, wenn es nach Blut riecht, aber dann beruhigen wir uns wieder und leben weiter, als wäre nichts gewesen, und das in einer Zeit, da direkt neben uns der Priester Alexander Men ermordet wird, der uns retten wollte. Und ist er vielleicht der einzige? Was sind wir denn nun? Missgeburten, Unmenschen, wahnsinniger Pöbel, gefangen in hemmungslosem Suff und unentwegten Verbrechen?

Das könnte, außer dass es sich mit uns Menschen doch fast immer und überall so verhält, geschrieben sein als Kondensat einer Erfahrung im Moskau dieser Tage, etwa nach dem 26. Oktober, an dem 129 Geiseln und 41 tschetschenische Geiselnehmer in ihrem Blut erstickten. Wir erregen uns erst, wenn es nach Blut riecht, aber dann beruhigen wir uns wieder und leben weiter, als wäre nichts gewesen. Vielleicht war ja an diese Ereignisse gedacht bei diesem Satz - aber er kann nicht nur auf sie hin gedacht oder geschrieben sein. Denn der Satz geht weiter und konstruiert eine merkwürdige Gleichzeitigkeit mit der Phrase und das in einer Zeit, da direkt neben uns der Priester Alexander Men ermordet wird, der uns retten wollte. Dieses Verbrechen ist vor 12 Jahren geschehen, am 9. September 1990, nach Zeit und Ort also weit weg von uns, und ebenso weit von Moskau im Oktober 2002.

Und ist er vielleicht der einzige? Also: warum ist hier Erzpriester Aleksandr Men genannt, warum sind sein Name, seine Persönlichkeit über einen so langen Bogen von Zeit hereinzitiert in unsere unmittelbarste Gegenwart? Die Antwort liegt auf der Hand, d.h. im Text: Der Autor Anatoli Pristawkin erinnert hier an Aleksandr Men als den, der uns retten wollte. Eine unglaublich starke Formulierung, eine fast ungeheuerliche verbale Herausforde-rung, die nur dank ihres - allerdings nicht missdeutbaren - Kontextes einer falschen Divini-sierung von Vater Aleksandr Men wehrt! Denn der Kontext stellt ganz offensichtlich auf Selbsturteile der russischen Gesellschaft über sich ab, wenn bezüglich des Objekts der Ret-tung nochmals gefragt wird: Was sind wir denn nun? Missgeburten, Unmenschen, wahnsin-niger Pöbel, gefangen in hemmungslosem Suff und unentwegten Verbrechen?

Meine Damen und Herren,
Erzpriester Aleksandr Men hatte aufgerufen zur Ökumene der Kulturschaffenden. Wenn es im geistigen und moralischen Bereich so etwas gibt, wie die Übernahme der Stafette, das Entzünden einer frischen Fackel an einer herabgebrannten, dann markiert der zitierte kurze Text, dass und wie und wo das Erbe von Aleksandr Men fortlebt. Insofern hat der Preis, der Ihnen, verehrter Herr Pristawkin, heute verliehen wird, Sie gesucht und sich in diesem Jahr für Sie als den Würdigsten entschieden. Herzlichen Glückwunsch!

Einzelne unter Ihnen namentlich zu begrüßen darf (und muss) ich mich angesichts unserer großen Zahl heute aufs Äußerste bescheiden:

Von den russischen Mitträgern des Aleksandr-Men-Preises begrüße ich herzlich Frau Dr. Ekaterina Genieva, Direktorin der Bibliothek für Ausländische Literatur in Moskau, und mit ihr zusammen ihre Stellvertreterin, Frau Eugenia Rossinskaja. Frau Genieva danke ich auch für ihr Grußwort.

Ebenso Herrn Boris Chlebnikow, Vizepräsident der Europäischen Akademie für Zivilgesell-schaft in Moskau, den ich zusammen mit Frau Akademiedirektorin Elena Lerman begrüßen darf.

Wegen Verleihung eines eigenen Preises morgen kann aus dem Kreis der Jury heute leider nicht bei uns sein Herr Alexej Slovesnyi, Chefredakteur der Zeitschrift für Ausländische Literatur in Moskau.

An Gästen aus Russland heiße ich weiter willkommen Vater Grigorij Christyakov und Frau Elena Kovalevskaja.

Eine Freude ist es, Herrn Ernst-Jörg von Studnitz hier zu sehen, bis vor Kurzem Botschaf-ter der Bundesrepublik in Moskau und Freund unseres heutigen Preisträgers. Unvergessen, Herrn von Studnitz, die letztjährige Preisverleihung in Moskau an Otto Graf Lambsdorff unter Ihrer Mitwirkung und der mittägliche Empfang zuvor in Ihrer Residenz!

Zur Jury des Aleksandr-Men-Preises gehört auch Herr Professor Dr. Dietrich Beyrau vom Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen. Selbst verhindert, heute hier sein, begrüße ich stellvertretend für ihn nicht minder gern Herrn Dr. Eberhard Müller.

Für das Grußwort der Diözese Rottenburg-Stuttgart danke ich Herrn Bischof Dr. Johannes Kreidler, Weihbischof in Rottenburg. Ich begrüße ihn mit Freude, und mit ihm aus dem Bi-schöflichen Ordinariat den scheidenden Kanzler Dr. Waldemar Teufel, Frau Ordinariatsrätin Therese Wieland und Herrn Ordinariatsrat Dr. Joachim Drumm.

Dass die Katholische wie die Evangelische Kirche unseres Landes und unserer Stadt auch mit weiteren hohen Amtsträgern vertreten sind, sei dankbar vermerkt.

Abgeordnete zum Deutschen Bundestag und zum Baden-Württembergischen Landtag, Vertreterinnen und Vertreter des Öffentlichen Lebens, der Politik, mehrerer Landesbehörden der Stadt Stuttgart (ihrer Ämter und ihres Gemeinderats), mögen mir ihre "Anonymisierung" - verbunden mit dem Dank für ihr Kommen - ebenso nachsehen, wie die Vertreterinnen und Vertreter des wissenschaftlichen und des literarischen Lebens in unserem Land, unseres Diözesanrats und Diözesanpriesterrats, befreundeter und benachbarter Institutionen. Ich möchte einmal annehmen, Sie sind nicht in erster Linie gekommen, um in einer ermüdenden Litanei Ihren Namen zu hören, sondern um einem verdienten Anderen die Ehre zu geben.

Gleiches möchte ich annehmen für die Mitglieder des Kuratoriums unserer Akademie, des-sen stellvertretender Vorsitzender, Herrn Intendant i.R. Hermann Fünfgeld, nachher die Preisverleihung vornehmen wird, wie für die Mitglieder Vereinigung von Freunden und För-derern der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart ("Akademieverein"), auf dessen Kon-to liebenswürdigerweise die Stiftung des - ja mehr oder weniger symbolischen - Preisgeldes geht.

Den Medien sei gedankt für ihr Interesse, das den Tag über bis jetzt noch nicht erlahmt ist.

Zur allgemeinen Verständigung tragen nicht unwesentlich bei unsere Dolmetscher, Herr Ale-xander Korolkow und Frau Bärbel Sachse. Ohne Sie blieben viele Worte Schall und Rauch.

Unsere heutige Preisverleihung, meine Damen und Herren, kam sehr kurzfristig ins Kalkül, fast fahrlässig kurz, und so ist es nicht verwunderlich, dass viele Terminkalender für Präsenz heute Abend beim besten Willen keinen Platz mehr ließen. Stellvertretend für viele motivierte Absagen seien genannt: Ministerpräsident Erwin Teufel, Prof. Dr. Wolfgang Kasack (Preis-träger 1997) und Dr. Otto Graf Lambsdorff (Preisträger 2001). Sie lassen unsere festliche Versammlung freundlichst grüßen.

Ein ganz besonders herzliches Willkommen und unser allerbester Dank gilt Herrn Thomas Reschke, der sich keine Minute bitten ließ, Person und Werk von Anatoli Pristawkin in einer Laudatio zu würdigen. Thomas Reschke hat seit 1957 mehr als hundert Romane, Bühnen-stücke, Erzählungen und Kinderbücher aus dem Russischen übersetzt, teilweise zusammen mit seiner Frau Renate Reschke, die ich ebenfalls herzlich begrüßen darf. Herr Reschke ist ein begnadeter Literatur-Übersetzer. Er hat in diesem Metier hohe und höchste Anerkennung und vielfache Auszeichnungen erfahren. Ich erwähne davon lediglich den Bundesjugendlite-raturpreis (1991), das Bundesverdienstkreuz (2000) und jüngst (2001) den renommierten Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur Nordrhein-Westfalens.

Ihm selbst stünde also nichts weniger zu denn eine Laudatio. Aber wir wollen es heute bei den abgesprochenen Rollen belassen. Aus seiner "Arbeitsbeziehung" zu unserem Preisträ-ger ist eine tiefe Freundschaft geworden. Wir werden nachher davon hören und dürfen es spüren. Die Reihe seiner Übersetzungen von Texten Anatoli Pristawkin's setzt sich im kom-menden Jahr fort mit einem Titel, den man kaum auszusprechen wagt - Ich flehe um Hin-richtung. Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten (ich habe oben daraus zitiert) - im Luchterhand Verlag, der nun das deutsche Werk von Anatoli Pristawkin betreut. Freundliches Willkommen also auch dem Verleger, Herrn Gerald Trageiser und Frau Petra Büscher.

Auf seine Weise - mit der Musik Johann Sebastian Bachs nämlich - trägt zur laudatio für unseren Preisträger bei Herr Mathias Neundorf. Sein Lehrer hier in Stuttgart war einstens Ricardo Odnopossoff. Als Mitglied des Stuttgarter Oktetts (seit 1991), als Primarius des Neuen Stuttgarter Streichquartetts (seit 1996), in Kammermusikformationen wie dem Melos-Quartett oder dem Ensemble Varianti und nicht zuletzt als Solist hat sein Name nicht nur in Stuttgart einen guten Klang. Allerbesten Dank Ihnen Herr Neundorf für Ihr Spiel!

Und nun, zuletzt: Dass Ihr großartiger Zuspruch, meine Damen und Herren, uns in der Orga-nisation dieses festlichen Abends wieder einmal an die Grenzen des Leistbaren geführt hat, ist leicht ersichtlich. Und doch haben wir alle und hat die Verleihung des Aleksandr-Men-Preises wieder ihre traditionelle Herberge gefunden - was sage ich "Herberge": dürfen wir wieder zu Gast sein hier im Foyer der L-Bank. Und die Freundlichkeit dieses Hauses wird sich nach dem Festakt noch mit weiteren menschenfreundlichen Zuwendungen fortsetzen. Was mittlerweile schöne und gute Gewohnheit ist, ist trotzdem nicht selbstverständlich. Und also sei dafür diesem Haus und seinem Vorstandsvorsitzenden, Herrn Christian Brand, sehr herzlich gedankt!

Dank Ihnen allen!


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Begrüßung
Dr. Abraham P. Kustermann,
Akademiedirektor

Grußwort
Dr. Johannes Kreidler,
Weihbischof, Diözese Rottenburg-Stuttgart

Grußwort
Dr. Ekateria U. Genieva,
Generaldirektorin der Allrussischen Bibliothek für Ausländische Literatur, Moskau

Grußwort
Boris Chlebnikow,
Vizepräsident der Europäischen Akademie für Zivilgesellschaft, Moskau

Laudatio
Thomas Reschke,
Literatur-Übersetzer, Berlin (Übersetzer von A. I. Pristawkin)

Preisverleihung
Hermann Fünfgeld,
Stv. Vorsitzender des Kuratoriums der Akademie der Dözese Rottenburg-Stuttgart

Dankesworte
Anatoli I. Pristawkin

Bericht aus der Stuttgarter Zeitung

Bericht aus den Stuttgarter Nachrichten



Über Anatoli Pristawkin:

Lebenslauf Pristawkins

Preise und Auszeichnungen

Bibliografie

Weitere Informationen zu Anatoli I. Pristawkin auf Wikipedia


Über Thomas Reschke:

Lebenslauf Reschkes

Auszeichnungen

Wichtigste Übersetzungen