Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 1999

Gerd Ruge

Laudatio

Dr. Otto Graf Lambsdorff

Meine Damen und Herren,

in Deutschland wird viel geklagt. Man hat den Eindruck, dass wir in einem Lande leben, in dem vieles, ja fast alles schlecht ist. Diese ständige Klage ist einigermaßen verblüffend. Dies gilt gerade dann, wenn man sich mehr oder minder lange im Ausland aufgehalten hat, nach Deutschland zurückkehrt und feststellt: Die Schwierigkeiten, über die hier geklagt wird, sind sehr klein im Vergleich zu der Menge von Problemen in dem Land, aus dem man gerade kommt. Es lebt sich gut in Deutschland. Natürlich muss vieles verbessert werden. Auch wir und gerade wir brauchen Reformen. Aber vergessen wir über diesen Notwendigkeiten nicht das, was sich bewährt hat, was funktioniert, was uns zugute kommt. Wir müssen, so mein Eindruck, alle wieder lernen, das zu schätzen, was wir haben. Und wir müssen, so die Fortsetzung meiner These, uns auch immer wieder darüber klar zu werden suchen, warum so vieles in unserem Lande schätzenswert ist: weil wir nur dann wirklich erkennen, was wir daran haben.

Heute ist so ein Tag, an dem wir das lernen können. Wir wollen von einem Menschen sprechen, den wir alle kennen. Oder besser: den wir alle zu kennen glauben. Der uns allen - zumindest uns, die wir schon etwas länger auf dieser Erde sind - seit langem vertraut ist. Der - wir leben schließlich in einer Mediengesellschaft - über das Radio, das Fernsehen und mitunter auch die Zeitung zum Teil unseres Lebens geworden ist. Und der unsere Sicht der Dinge, also unsere Wirklichkeit, geprägt und sie damit mit geschaffen hat. Der also in gewisser Weise ein Teil von uns geworden ist.

Von diesem Menschen will ich Ihnen heute sprechen. Dies aus drei Gründen: Erstens, weil ihm heute ein Preis verliehen wird. Zum zweiten, weil er damit, wie das damals im Lateinunterricht hieß, als das Gerundivum durchgenommen wurde, ein zu lobender ist. Oder, anders ausgedrückt, weil wir ihm sagen wollen, dass und wie sehr wir ihn schätzen. Und zum dritten, damit wir ihn sozusagen nicht als selbstverständlich nehmen, sondern uns - und hier komme ich auf das zurück, was ich anfangs gesagt habe - klar darüber werden, was wir an ihm haben. Auf diese Weise können wir alle vielleicht erkennen, was wir wirklich brauchen. Denn loben - das heißt ja nicht nur zu sagen, was wir schätzen. Das heißt auch zu sagen, was wir brauchen.

Sie werden erraten haben, von wem ich sprechen will: von Gerd Ruge. Ihm wird heute der Alexander-Men-Preis verliehen. Damit ist auch klar, von wem ich noch sprechen will: von Alexander Men. Von dem Menschen, in dessen Namen und zu dessen Andenken dieser Preis verliehen wird. Denn auch ihn und sein Werk ehren wir, wenn wir diesen Preis verleihen, der nach ihm benannt ist. Und noch einen dritten Aspekt will ich berühren: Russland und Deutschland. Denn der Preis wird mit Blick auf diese beiden Länder verliehen. Für die, wie es offiziell heißt, "interkulturelle Vermittlung" zwischen beiden Ländern "im Interesse des friedlichen und humanen Aufbaus des Europäischen Hauses". Einfacher gesagt: Der Preis wird dem verliehen, der Russland und Deutschland einander näher gebracht hat. Und genau das hat Gerd Ruge getan.

Wir wollen also heute Abend drei Dingen nachgehen, ihnen nachspüren, in ihrem Zusammenhang und in ihrem Zusammenklang: Gerd Ruge, Alexander Men, Deutschland und Russland.
Das ist natürlich eine Aufgabe, die mich - und ich meine das ernst - überfordert. Es stimmt zwar: Meine Familie hat russische Bindungen und Verbindungen, hat teilweise russische Wurzeln. Lambsdorffs haben in Petersburg gelebt, haben dem Zaren, haben Russland gedient. Ich selber fahre jedes Jahr nach Russland, wirke dort an der Arbeit mit, die die Friedrich-Naumann-Stiftung, deren Vorsitzender ich bin, dort leistet. Und doch fehlen mir - ich bin selbstkritisch genug, das festzustellen - viele der Voraussetzungen, die es braucht, um den Dreiklang vernehmbar zu machen, von dem ich gesprochen habe: Gerd Ruge, Alexander Men, Deutschland und Russland. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie die Institutionen vertreten, die diesen Preis verleihen, Sie haben mich gebeten. Und dieser Bitte habe ich mich nicht entziehen wollen. Immerhin bin ich in der glücklichen Lage, auf Sie zu verweisen, sollte meine Laudatio misslingen.

I.
Von Alexander Men, dem 1990 ermordeten russischen Erzpriester, wissen wir in Deutschland zu wenig. Dies wird wahrscheinlich erst dann anders werden, wenn seine Bücher ins Deutsche übersetzt sind und hier Aufnahme und Verbreitung gefunden haben. In jedem Fall sollten wir in Deutschland, in Europa mehr über Alexander Men wissen. Über das, was er als Theologe und überzeugter Ökumeniker gelehrt hat, was er für die Russisch-Orthodoxe Kirche bedeutet hat und was er uns sein kann.

In der Sowjetunion war Alexander Men für die Andersdenkenden und Unterdrückten eine moralische Größe. Er bot vielen Halt, war Seelsorger in einem Sinne, wie ihn die offizielle Kirche in Russland bisher kaum gekannt hatte. Zu ihm kamen viele Künstler, die in Opposition zum Regime standen, Schriftsteller, Dramatiker und andere. Vor allem aber wandten sich ihm viele junge Menschen zu. Für sie war die Persönlichkeit Alexander Mens, war seine Theologie eine Offenbarung: Durch sie kam Luft, kam ein Hauch von Freiheit in das geistige Gefängnis, das die Sowjetunion - wir sollten das nicht vergessen - ja in der Tat war. Alexander Men wurde so zu einem der führenden Köpfe des geistigen Widerstandes in der Sowjetunion. Nach der Wende und dem Entstehen des neuen Russland erfuhr auch Alexander Men endlich die öffentliche Anerkennung, die er und sein Werk verdienten. Er trat in den Medien auf und machte mit seiner Menschlichkeit, mit seiner Gabe des Wortes, mit seinem enzyklopädischen Wissen einen großen Eindruck auf die Menschen. Mehr als das: Er faszinierte sie.

Gerade das wurde ihm wohl zum Verhängnis. Die rechten Kräften in der Russisch-Orthodoxen Kirche wie auch im KGB jedenfalls waren beunruhigt. Sie empfanden, wie dies vor drei Jahren bei der Verleihung des Alexander-Men-Preises an Lew Kopelew anklang, Mens offenen Geist, wohl auch sein Charisma als Bedrohung, seinen Ökumenismus als Ketzerei. Am 9. September 1990 wurde Alexander Men auf dem Weg zu seiner Kirche mit einem Beil erschlagen. Die Täter sind bis heute nicht gefunden. Bei rechtsextremen und nationalreligiösen Kreisen in Russland hat das Verbrechen offene Zustimmung gefunden; sie hält bis heute an.

Vielleicht erinnern wir heute bei der Verleihung des Preises, der seinen Namen trägt, am besten an ihn, wenn wir einen Satz zitieren, der immer wieder angeführt wird, wenn von Alexander Men die Rede ist. Es ist ein schlichter, ein einfacher Satz. Und doch enthält er eine Wahrheit, die immer gilt: "Das Eigene lieben", so Alexander Men, "heißt nicht, das Fremde zu hassen. Wo immer sich der Chauvinismus breit macht - ganz gleich in welchem Volk - stimmt uns das traurig." Man mag an diesem Satz ermessen, wie sehr dem heutigen Russland, mit seiner großrussischen Versuchung und den chauvinistischen Irrwegen mancher Kreise, eine Stimme fehlt, wie sie Alexander Men war.

II.
Lieber Herr Ruge, das Würdigen, das Preisen ist so recht meine Sache nicht. Und Ihre Sache, so mein Empfinden, ist es nicht, Lob und Preis zu suchen oder gar in ihnen zu baden, auch wenn Sie ernst gemeint sind, auch wenn Sie den Tatsachen entsprechen. Und das war und ist bei den vielen Ehrungen, die Sie in Ihrem Journalistenleben erfahren haben und noch erfahren, immer der Fall gewesen. Aber eines kann ich und eines will ich: Feststellungen treffen. Und eines können und müssen Sie, lieber Herr Ruge, und Sie, sehr verehrte Damen und Herren, die Sie zu Ehren von Gerd Ruge hierher gekommen sind: sich diese Feststellungen anhören.

Für jeden Menschen und umso mehr für einen Journalisten ist es von Vorteil, zur richtigen Zeit am richtigen Platz zu sein. Diese Eigenschaft, auf deren Erwerb man ja wenig Einfluss hat, ist Gerd Ruge sicherlich nicht in die Wiege gelegt worden. Und im Januar 1945, also mit 17 Jahren, noch zur Wehrmacht eingezogen zu werden, wie dies Gerd Ruge geschah, ist sicherlich auch noch kein Ausweis dieser Eigenschaft. Ich weiß, wovon ich rede: Auch mich hat man 1944 mit 18 Jahren noch zur Wehrmacht geholt; mit unliebsamen Folgen in Gestalt eines Zusammentreffens mit britischen Tieffliegern im Jahr 1945. Aber nach dem Krieg muss Gerd Ruge diese Eigenschaft wohl erworben haben; denn nach seiner Ausbildung und seinen Anfängen als Redakteur beim Westdeutschen Rundfunk war er als Journalist immer dort, wo es darauf ankam, wo, wie er selber es sagt, ein Umbruch stattfand.

Das begann 1950, als Gerd Ruge der erste Journalist aus der Bundesrepublik Deutschland wurde, der aus Jugoslawien berichtete. Es ging weiter, als die Kriege in Korea und Indochina zum Gegenstand seiner journalistischen Arbeit wurden. 1956 - wieder ein solcher Fall - wurde Gerd Ruge zum ersten ständigen Korrespondenten aus der Bundesrepublik Deutschland in Moskau und wurde so zum Beobachter des beginnenden Tauwetters in Russland, das allerdings nie in einen wirklichen Frühling überging und schließlich eher zu neuen Vereisungen führte. In den 60er Jahren begann in den USA ein politisches Umdenken mit Blick auf die Sowjetunion, bereitete sich die Entspannung zwischen beiden Staaten, zwischen Ost und West vor, ging auch im Lande selbst ein Wandel vor sich, der die amerikanische Gesellschaft veränderte. Wo ist Gerd Ruge in diesen Jahren? Natürlich in den USA, wo er von 1964 bis 1969 Amerika? und Washingtonkorrespondent der ARD ist.

Anfang der 70er Jahre war das wichtigste politische Ereignis selbstverständlich - Sie werden verstehen, dass ich das sage und wie ich das meine - der Antritt und die Arbeit der sozial?liberalen Regierung in Bonn. Konsequenterweise - dies jetzt meine Interpretation - geht Gerd Ruge in die damalige Hauptstadt und wird Leiter des WDR-Studios Bonn. Was nun noch fehlte, war China. Dort gab es zwar keinen Umbruch, aber die späteren Umbruchlinien zeichneten sich kurz nach dem Tod Maos schon ab. Gerd Ruge geht also für drei Jahre nach China und wechselt dabei das Medium, wird Korrespondent für die "Welt". Auch dies wieder konsequent; denn eine ausreichend freie Fernsehberichterstattung wäre damals noch nicht möglich gewesen; möglich und nötig dagegen war die Beobachtung und ständig analysierende Begleitung dessen, was in China vor sich ging. In den späten 70er Jahren droht die Entspannung zwischen Ost und West zu kippen, und zwar nicht zuletzt wegen Moskauer Intransigenz - es war die Zeit der Stationierung der gegen Westeuropa gerichteten SS-20-Raketen und der russischen Intervention in Afghanistan. Gerd Ruge geht also nach Moskau zurück und bleibt dort bis 1981 als Hörfunkkorrespondent der ARD.

In seiner nächsten Station macht Gerd Ruge einmal etwas ganz anders, als Umbrüche zu beobachten und zu begleiten. Er geht selbst ins Zentrum der Macht. Diese liegt in Deutschland bekanntlich beim Fernsehen, nicht zuletzt beim Westdeutschen Rundfunk und seinem Magazin "Monitor". Folglich übernimmt Gerd Ruge 1981 die Leitung dieses Magazins und von 1984 an für zwei Jahre den Posten des Chefredakteurs Fernsehen. Es ist nicht offiziell überliefert, wie Gerd Ruge die Macht geschmeckt hat. Die Bürokratie, die ja immer mit der Macht verbunden ist, dürfte ihm wohl nicht gemundet haben.

In den Jahren, die nun kommen, kündigen sich Änderungen in Russland an. Der neue Generalsekretär der KPdSU Gorbatschow beweist allen, dass er es ernst meint mit Perestrojka, Glasnost und neuem Denken. Das alles ist kein Trick, wie manche westliche und dabei insbesondere amerikanischen Politiker gedacht haben, inszeniert, um den Westen einzulullen und zu täuschen. Gorbatschow will wirkliche Reformen, will eine verbesserte Sowjetunion schaffen. Gerd Ruge wird geahnt, wird gewusst haben, dass sich damit in der Sowjetunion, in Russland nicht nur Wandel und Reformen, sondern tiefgehender Umbruch und vieles erfassende Unordnung abzeichnen. Sein Platz ist also wieder in Russland: 1987 geht er als Leiter des ARD-Studios nach Moskau und bleibt dort bis 1993, dem Jahr der ersten freien Wahlen zum neuen russischen Parlament, der Duma.

Seitdem ist Gerd Ruge angeblich im Ruhestand. Wir, die wir seine Filme betrachten, die er seitdem gemacht hat, die wir ihn als Moderator in Talkshows sehen, bemerken allerdings - und deshalb mein Zusatz "angeblich" - wenig von diesem Ruhestand. In jedem Fall ist Gerd Ruges Ruhestand äußerst produktiv. Das finden auch die Studenten der Hochschule für Fernsehen und Film in München, wo Gerd Ruge seit Oktober 1997 Leiter des Bereichs Fernsehjournalismus ist.

Gerd Ruge war also in der Tat immer dort, wo es darauf ankam. Und die Orte, wo es darauf ankam, waren die für einen Journalisten wichtigsten Städte: Moskau, Washington, Peking. Und als Deutscher will ich hinzufügen: Bonn. Gerd Ruge war damit, wie die Amerikaner es ausdrücken, "present at the creation", war dabei, als alte Systeme zusammenbrachen und neue entstanden.

Gerd Ruge weiß, dass ihm diese Präsenz, dieses immer-am-richtigen-Ort-Sein sehr genützt hat. Allerdings ist das alles natürlich nicht so gekommen, wie das in meiner Schilderung angeklungen ist: Neben konsequenter Planung und Überlegung haben auch ganz andere Momente eine Rolle gespielt. Gerd Ruge spricht von Zufall, von Glück, die ihm zuteil geworden seien. Das mag so sein. Aber Zufall, Glück - das sind Worte, hinter denen eigentlich anderes steht. Ich will es einmal so formulieren: Dass Gerd Ruge immer dort war, wo er sein sollte und oftmals - übrigens nicht immer - auch sein wollte, das ist etwas, was ihm verliehen war, was ihm geliehen war, damit er etwas daraus mache. Denn es kommt ja nicht nur darauf an, dabei zu sein, an dem Ort zu sein, wo etwas geschieht, wo sich ein Umbruch vollzieht. Es kommt auch und vor allem darauf an, was man aus dieser Präsenz macht.

Gerd Ruge hat das Geschenk der Präsenz am richtigen Ort zur richtigen Zeit genutzt. Er hat es gut genutzt. Über diese Tatsache brauchen wir nicht zu reden - sie entspricht nicht nur, wie die Juristen sagen, der herrschenden Meinung; sie ist schon Axiom.

Was ist es, was wir an ihm und seiner Arbeit so schätzen, was uns an ihm so gefällt? In dieser Hinsicht gibt es - auch wenn es immer wieder Übereinstimmungen gibt - unterschiedliche Auffassungen; und das ist ja auch ganz natürlich so. Jeder von uns hat sozusagen seinen eigenen Gerd Ruge, sein eigenes Bild von ihm, mit seinen eigenen Vorzügen.

Ich will Sie einmal mit meinem Gerd Ruge bekannt machen, will Ihnen sagen, warum ich Ihn und seine Arbeit so schätze. Und will damit gleichzeitig deutlich machen, warum ich ja gesagt habe, als ich gefragt wurde, ob ich die Laudatio auf ihn übernehmen würde.
Zunächst einmal: Für mich vereint Gerd Ruge zwei Funktionen, zwei Aufgaben, zwei Eigenschaften: Er ist auf der einen Seite Nachrichtenmann, Reporter; auf der anderen Seite ist er Erzähler. Dabei schließt das eine das andere nicht aus; beide Elemente sind im jeweils anderen enthalten. Der Reporter Ruge baut immer wieder erzählerische Elemente in seine Berichte ein. Und der große Fernsehepiker Ruge verleugnet nie den Reporter, der er eben auch ist. In beiden Rollen, in beiden Aufgaben ist ihm seine Sprache zugutegekommen: Gerd Ruge kommt - das ist immer wieder zu spüren - vom Hörfunk. Er hat uns nie nur etwas zu zeigen, sondern immer auch etwas zu sagen gehabt. Gerd Ruge legt großes Gewicht auf Text und Analyse; er feilt an seinen Sätzen. Er wäre nie verloren, wenn der Teleprompter ausfiele oder bei aktuellen Ereignissen keine Zeit mehr zur Vorbereitung von Texten wäre.

Mit alledem ist auch gesagt, was Gerd Ruge nicht ist, zum Glück nicht ist.

Auch wenn er von vielen Orten dieser Welt berichtet, ist Gerd Ruge kein rasender Reporter. Er ist das genaue Gegenteil: Er ist gleichsam der ruhende Reporter, der in sich ruhende Reporter. Und anders als viele seiner Zunft gerade bei den Nachrichtensendern, die an vielen Orten gleichzeitig zu sein scheinen, hat man bei Gerd Ruge nie den Eindruck, dass er die Gabe der Ubiquität besitzt. Wenn er von einem Ort berichtet, von dort erzählt, dann ist er dort, und nur dort. Er ist dort gegenwärtig. Und diese Präsenz, diese spürbare Präsenz brauchen wir: Sie ist es nämlich, die es uns ermöglicht, jemandem etwas abzunehmen, wie es treffend heißt. Die es uns ermöglicht, jemandem zu vertrauen. Und genau das ist es, was wir Gerd Ruge entgegenbringen: Vertrauen.

Gerd Ruge ist aber vor allem eines nicht: Er ist kein Unterhalter. Warum sage ich das so ausdrücklich, warum betone ich das? Weil ich die Unterhaltung durch das Fernsehen für eine der größten Gefahren halte, denen sich unsere Gesellschaft gegenübersieht. Das klingt reichlich merkwürdig; ich muss und will das erläutern.

Natürlich will ich nicht die übliche Fernsehunterhaltung verteufeln. Obwohl ich sie ziemlich schlecht finde, soweit mir die Zeit zwischen An? und Ausschalten des Fernsehgerätes bei derartigen Sendungen überhaupt Gelegenheit für die Gewinnung eines solchen Urteils gibt. In jedem Fall betrifft dieses Urteil manche Sender mehr als die anderen, wobei ich das Gefühl habe, dass die Nivellierung nach unten rapide fortschreitet. Ich halte das für eine schlimme Entwicklung. Ich meine eine andere Art von Unterhaltung: die politische Nachricht. In unserer Mediengesellschaft ist auch die politische Nachricht zur Unterhaltung geworden. Sie wird konsumiert. Und das heißt auch, dass sie nicht reflektiert wird. Wir analysieren, beurteilen nicht mehr beim Nachrichtenkonsum, fragen nicht mehr, ob die jeweilige Nachricht für uns wichtig ist, ob wir reagieren müssen oder nicht. Wir unterscheiden die Nachrichten bald nur noch nach ihrem Unterhaltungswert: Ist die Neuigkeit spannend? Oder ist sie langweilig?

Auf diese Weise verliert eine Gesellschaft ihr kritisches Bewusstsein, ihre politische Wahrnehmungsfähigkeit. Mehr noch: Sie verliert ihre Überlebensinstinkte. Wer Nachrichten nicht mehr aufnimmt, auf die politisch und gesellschaftlich reagiert werden muss, sondern sie allenfalls als spannende Unterhaltung konsumiert oder sie als langweilig ablegt und vergisst, der verliert letztlich seine Handlungsfähigkeit. Er wird zum passiven Verbraucher, der nicht mehr agieren und reagieren kann, wenn gehandelt werden muss. Für eine Gesellschaft kann, ja muss das fatal sein. Wir amüsieren uns zu Tode - so hat der Medienforscher Neil Postman diese Entwicklung charakterisiert.

Diese Erscheinung ist gerade mit Blick auf die Berichterstattung aus Russland vielfach anzutreffen. Russland gilt als spannende Unterhaltung. Zumindest war das bis vor kurzem der Fall; inzwischen scheint ein gewisser Sättigungseffekt eingetreten zu sein, mit entsprechenden Abstoßungserscheinungen. Russland droht langweilig zu werden und seinen Unterhaltungswert zu verlieren. Ich brauche nicht weiter auszuführen, dass dies der Bedeutung Russlands für uns, für die Welt in keiner Weise entspricht. Und ich brauche auch nicht weiter darauf hinzuweisen, dass es gefährlich ist, wenn wir Russland - wie jedes andere Land von Gewicht - nicht mehr wahr?nehmen.

Ich finde, Gerd Ruge ist dieser Gefahr nicht erlegen. Und sein Sender auch nicht. Gerd Ruge hat nicht zu denen gehört, die zu aktuellen Ereignissen aus Moskau eingeblendet werden, möglichst auf dem Roten Platz stehend, und die dann zwei oder drei Sätze sagen. Oder besser sagen dürfen. Seine Berichte waren nie als Unterhaltung gemeint und sie wurden auch nicht als solche aufgefasst. Gerd Ruge hat, was die politische Nachricht betrifft, immer vermittelt: Tatsachen und ihre Bewertung. So war das etwa während der fast 72stündigen Live-Sendung beim Putsch gegen Gorbatschow im August 1991; so war das bei jedem kürzeren oder längeren Beitrag, den Ruge für die Nachrichten- und Analysesendungen aus Moskau gestaltet hat.

Aber auch seine Fernseherzählungen, wie ich Gerd Ruges Beiträge aus dem weiten Land Russland einmal nennen möchte, waren nie Unterhaltung. Auch wenn sie viele Menschen zum Fernseher gelockt und sie dort gehalten haben. Was waren die Gründe für diesen Zuspruch? Woran lag, um es in der unsäglichen Fernsehsprache von heute zu sagen, die hohe Quote?

Gerd Ruge hat den Menschen ein Land nahegebracht, das für die Deutschen nahezu mythische Bedeutung hat: Russland. Aber er hat den entsprechenden Erwartungen der Menschen nicht nachgegeben: Er hat nicht von russischer Seele geredet und von ihrer Verwandtschaft mit der deutschen Seele, nicht vom "besonderen russischen Weg" und nicht von der Mission Russlands. Er hat also nicht, wie so manch andere das tun, diejenigen Mythen nach Deutschland transportiert, die schon in Russland falsch sind, eben nur Mythen, und die dem Lande nur schaden. Und uns übrigens auch; denn sie verzerren unser Bild von Russland. Und sie werden in ihrer Schädlichkeit nach Russland zurücktransportiert, wo sie dann weiteren Schaden anrichten können.

Statt dessen hat Gerd Ruge uns Russland gezeigt, wie es für ihn ist. Wie er es sieht. Unprätentiös. Ohne ständige tiefgehende Kommentare. Er hat das Land, Russland, hat die Menschen in Russland selbst sprechen lassen. Er hat uns die - wirklich sehr großen - Probleme Russlands oder vielmehr seiner Menschen gezeigt, ihre Kraft, ihren Gleichmut und auch ihre Apathie, die trotz aller Schwäche, die auch darin liegt, hilft, das Schlimmste zu überstehen.

Und er hat damit den Erwartungen der Menschen hier in Deutschland eben doch entsprochen, ja fast ihren Sehnsüchten. Nämlich ihrem aus vielfältigen Quellen kommenden Wunsch, Russland, diesem großen unbekannten Land, seinen Menschen näherzukommen. Aber auch ihrem Wunsch nach Wahrheit oder vielleicht eher Wahrhaftigkeit. In einem Land wie Deutschland, in dem so viele, ja die meisten - Politiker, aber eben auch Journalisten - nicht mehr so reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sondern so, wie sie beim Publikum anzukommen glauben, ist diese Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit besonders groß. Ich glaube, auch darin liegt das Geheimnis des Erfolgs, den Sie, lieber Herr Ruge mit ihrer Arbeit immer gehabt haben und noch haben: dass Sie in Ihren Sendungen, in Ihren Berichten und in Ihren Filmerzählungen wahrhaftig sind.

"Gelungene Nähe" - so möchte ich in Abwandlung eines Buchtitels den Erfolg von Gerd Ruge kennzeichnen.

Und auch wenn Gerd Ruge das Fernsehen, so wie es war und ist, also gleichsam das real existierende Fernsehen, nie als Instrument der Aufklärung gesehen hat - weil er in dieser Hinsicht, wenn ich ihn richtig interpretiere, zu sehr Realist war -, so hat er selber mit seinen Sendungen die Menschen doch nicht, wie er es formuliert "allein in der wüsten Welt zurückgelassen". Er hat vielmehr immer versucht, Sinn und Zusammenhang herzustellen. Auch das ist ihm gelungen. In seinen Sendungen gerade über Russland - etwa in seiner Spurensuche in Stalingrad 50 Jahre nach Ende des Krieges - ging es häufig auch um die Menschen im Deutschland von heute, also um uns alle. Wir haben das gespürt - auch ohne dass Gerd Ruge zu diesem Zweck den Zeigefinger eingesetzt hat. Gerd Ruge ist damit - selbst wenn er es vielleicht nicht hören mag - auch eines: ein Aufklärer.

Gerd Ruge hat dabei - und das möchte ich wegen seiner Wichtigkeit besonders erwähnen - auch eines erreicht: Er hat auf das Russlandbild von uns Deutschen eingewirkt. Mehr als das: Ich möchte die These wagen, dass er dieses Bild geprägt hat, zumindest wesentlich mitgeprägt hat. Es hat, wie George Kennan einmal gesagt hat, immer zwei Pole im Leben Russlands und seiner Gesellschaft gegeben: den negativen, dunklen Pol, geprägt von einer gewissen Gefühllosigkeit und Niedrigkeit des Geistes, und den positiven Pol, hell, liberal, voll Menschlichkeit, Toleranz und Wärme. Die Bolschewisten haben alles getan, den positiven Pol in der russischen Gesellschaft zu vernichten. Es ist ihnen nicht gelungen. Der positive, helle Pol hat überlebt. Aber wir haben es vielfach nicht gesehen. Wir Deutsche waren lange Zeit gewöhnt und geneigt, nur die negative Seite Russlands wahrzunehmen. Wir verdanken es, wie ich finde, wesentlich auch Gerd Ruge und seiner Arbeit wie auch dem seines Teams, dass wir in Deutschland inzwischen auch das andere Russland erkennen, das menschliche Russland. Für dieses Russland und für seine Menschen empfinden die Deutschen - auch dank Gerd Ruge - Sympathie, ihnen gegenüber haben sie Verständnis und Mitgefühl. Wir sollten unser Verständnis auf die in Russland Verantwortlichen ausdehnen. Unsere Politik gegenüber Russland - hier will ich doch einmal in diesen Bereich ausgreifen - muss den Gefühlen der Erniedrigung in Russland entgegenwirken. Mit einem gedemütigten Partner kann man schwer sprechen. Dies gilt auch dann, wenn die Demütigung zum guten Teil selbst verschuldet ist. Die gegenwärtigen politischen Ereignisse bestätigen, wie ich finde, meine Auffassung.

III.
Lassen Sie mich zum Ende meiner Laudatio auf Gerd Ruge noch eine Anmerkung machen.

Muss das, wofür Gerd Ruge steht und wofür wir ihn heute ehren, die Ausnahme bei Fernsehen und Radio bleiben? Natürlich nicht. Und zum Glück hat man den Eindruck, dass manche Journalisten aus allen, auch den schreibenden Medien bei Gerd Ruge in die Schule gegangen sind. Gerade von damals jungen Journalisten, die während Ruges zweiter Moskauer Tour in Moskau arbeiteten, hört man heute, wie sehr er sich seinerzeit um die in Russland unerfahrenen Kollegen gekümmert, ihnen geholfen und sie vielleicht auch geprägt hat. Und die Tatsache, dass Gerd Ruge, dass Professor Gerd Ruge, wie er neulich auf einer Veranstaltung in Moskau fast ehrfürchtig von gestandenen Männern und Kollegen genannt wurde, nun in der Lehre tätig ist, angehenden Fernsehjournalisten ihr Handwerk beibringt, lässt Hoffnung zu. Aber Sie sehen an meiner Formulierung, dass ich skeptisch bin. Ich weiß nicht, ob wir gegen den heute weitverbreitete Clip-Journalismus ankommen, mit seinen Dreißig-Sekunden- oder allenfalls Zwei-Minuten-Statements, mit seinem fast völligen Fehlen von Analyse und Hintergrund, mit seinen häufig austauschbaren Moderatoren und Korrespondenten. Ich weiß nicht, ob wir ankommen gegen die weitere Usurpation der politischen Nachricht durch die Abteilung Unterhaltung. Und ich weiß nicht nicht, ob wir ankommen gegen die Diktatur der Quote.

Versuchen müssen wir es jedenfalls.

Das habe ich gemeint mit dem, was ich eingangs gesagt habe: Indem wir heute Gerd Ruge ehren, erkennen wir nicht nur, was wir an ihm haben; wir erkennen auch, was wir brauchen. Wir brauchen - in den Worten von Gerd Ruge - "keine Programmplanung per Komitee". Wir brauchen "ein viel diskussions- und risikofreudigeres Fernsehen", wie Gerd Ruge selbst das in den 60er Jahren erlebt hat. Wir brauchen weiterhin die öffentlich-rechtliche Philosophie von Fernsehen und Radio, aber wir sollten uns mit Gerd Ruge fragen, ob diese Philosophie nicht etwas anderes sein muss als nur Quotendenken.

Wir brauchen aber vor allem eines - und ich finde, das zeigt uns, ja das lehrt uns Gerd Ruge -: Wir brauchen Persönlichkeiten und nicht nur Personen. Wir brauchen Journalisten, die nicht nur ausführen, was die Programmplanung beschließt, sondern die mitdenken und auch widersprechen. Die - wie das Gerd Ruge einmal vorexerziert hat - auch den Bettel hinschmeißen, wenn ihnen zuviel zugemutet wird.

Das alles heißt aber auch eines: Wir brauchen weiterhin Gerd Ruge.


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Bergüßung
Msgr. Dr. Gebhard Fürst
 
Grußwort
Weihbischof Dr. Johannes Kreidler,
Rottenburg-Stuttgart

Grußwort
Dr. Ekateria U. Genieva,
Moskau

Laudatio
Dr. Otto Graf Lambsdorff,
Bonn

Preisverleihung
Prof. Dr. Günter Bien,
Stuttgart

Dankesrede
Gerd Ruge,
München

Lebenslauf des Preisträgers

Veröffentlichungen von Gerd Ruge

Fernsehproduktionen

weitere Preise von Gerd Ruge

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