Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 1998
Tschingis Aitmatow
Grußwort
Bischof Dr. Walter Kasper

© Frank Eppler
... Zusammen mit Aleksandr Men, dem orthodoxen Priester jüdischer Herkunft, der Hoffnungsträger vieler Künstler und Intellektueller und Symbolfigur für eine weltoffene und zeitgemäße Orthodoxie nach dem Ende der sowjetischen Diktatur war, legten Sie bereits im Jahre 1990 beim „Deutsch-sowjetischen Literaten-Symposion“ in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart die Grundlagen für die Zusammenarbeit unserer Akademie mit Kulturschaffenden in Rußland und der GUS. Kurz darauf wurde Aleksandr Men heimtückisch ermordet. Mit dem nach ihm benannten Preis ehren wir heute das Andenken jenes Mannes, der intellektuellen Scharfsinn mit pastoraler Zuwendung, Dialogbereitschaft mit unbestechlicher Entschiedenheit so einzigartig zu vermitteln wußte.
Wie wichtig, ja notwendig die Bemühungen um interkulturelle Verständigung, um Bildung und religiöse Orientierung, ja auch um Aufklärung, gegenseitiges Lernen und konstruktive Kritik für den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen in Rußland bzw. der GUS und Deutschland sind, wurde mir während meiner Rußland-Reise im vergangenen Jahr vielfach und auf sehr konkrete Weise deutlich.
Dabei kommt, wie Aleksandr Men 1990 in der Akademie Weingarten betonte, den Künstlern und Intellektuellen eine besondere Verantwortung zu. Aber auch die Kirchen müssen hierzu ihren entschiedenen Beitrag leisten. Deshalb fördert das katholische Hilfswerk „Renovabis“ nun schon seit mehreren Jahren zahlreiche Aufbauprogramme und Partnerschaften in katholischen Gemeinden in Osteuropa und im Bereich der ehemaligen Sowjetunion, und die Tatsache, daß die Spenden für dieses Werk entgegen dem sonstigen Trend im letzten Jahr nicht unwesentlich angestiegen sind, zeugt vom wachsenden Bewußtsein der Verantwortung der Menschen in unserem Land für die Menschen und die Kirchen Osteuropas. Das Zusammenwachsen von Ost- und Westeuropa oder, wie der Papst vor wenigen Tagen in Wien sagte, die Europäisierung Europas ist ein vordringliches politisches, kulturelles und religiöses Anliegen.
Es geht uns dabei nicht um aggressiven Religionsimperialismus und Proselytismus, um Abwerbung und Überfremdung – weder in Richtung der Orthodoxie noch in die des Islam. Es geht uns um sozialen Aufbau, um kulturelle Bildung und religiösen Dialog. Dabei hat das Plädoyer des Zweiten Vatikanischen Konzils für einen offenen Dialog mit allen Menschen gleich welchen Bekenntnisses bleibende Aktualität: „Da Gott der Vater Ursprung und Ziel aller ist, sind wir alle dazu berufen, Brüder zu sein. Und darum können und müssen wir aus derselben menschlichen und göttlichen Berufung ohne Gewalt und ohne Hintergedanken zum Aufbau einer wahrhaft friedlichen Welt zusammenarbeiten.“ (Gaudium et Spes, 92)
Dieser Aufbau einer friedlichen und humanen Welt findet durchaus nicht nur in freundlichen Gesprächen am Kaminfeuer statt. Aleksandr Mens Schicksal belegt dies tragisch und unzweideutig. Dazu bedarf es auch dessen, was wir Mut und Freimut und was wir als Christen Opfermut nennen, nämlich den Mut, der den Frieden sucht, ohne sich selbst zu schade zu sein. Sie, Herr Aitmatow, haben diese Tugend in Ihrem Leben bewiesen. Es bedarf nicht weniger dessen, was wir Christen die Bereitschaft zur Umkehr nennen und die Einsicht in unsere Gottbedürftigkeit. Die atheistische und antireligiöse Politik und Propaganda der Sowjetära konnte nicht jene dem Menschen offenbar wesentliche Transzendentalität abtöten, die ihn nach einem absoluten Sinn jenseits der „immanenten Transzendenzen“ diesseitiger Heilslehren suchen läßt. Heute nach dem Zusammenbruch des atheistischen sowjetischen Totalitarismus offenbart sich aber auch, daß weder eine fundamentalistische Reaktivierung früherer oder neuartiger Gestalten von Religion noch die religionsförmigen Sinnangebote eines materialistischen Konsumhedonismus, der Esoterik oder des Nationalismus diese menschliche Sehnsucht wirklich erfüllen können. Alle diese immanentistischen Heilslehren unterliegen einem schwerwiegenden anthropologischen Irrtum; sie verkürzen den Menschen und seine Freiheit und liefern ihn damit innerweltlichen Verzweckungen aus. In dieser Situation haben die Bücher von Tschingis Aitmatow – ich denke vor allem an „Der Richtplatz“ und „Das Kassandramal“ – einen geradezu prophetischen Charakter. Inmitten der apokalyptischen Katastrophe ist „Das Kassandramal“ Zeugnis von der Hoffnung auf eine wahrhaftige Ökumene aller Menschen (ebd. 124). Sie war auch die leidenschaftliche Hoffnung Aleksandr Mens.
Daß die Leidenschaft für den Frieden, für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Verstehen zwischen den Völkern und Religionen in uns und in den Völkern des Ostens wie des Westens lebendig bleibt, dazu haben Sie, verehrter Herr Aitmatov, im Geist von Aleksandr Men einen wichtigen Beitrag geleistet. Deshalb gratuliere ich Ihnen von ganzem Herzen zum Aleksandr-Men-Preis 1998.
Es gilt das gesprochene Wort!
Programm
Grußwort
Bischof Dr. Walter Kasper,
Rottenburg-Stuttgart
Grußwort
Dr. Gregorü Jawlinskü,
Moskau
Grußwort
Eugenia Russinskaya,
Moskau
Laudatio
Friedrich Hitzer,
Wolfratshausen
Preisverleihung
Prof. Dr. Günter Bien,
Stuttgart
Dankesrede
Tschingis Aitmatow
Artikel Stuttgarter Zeitung
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