Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 1995

Dr. Kathinka Dittrich van Weringh

Laudatio

Dr. Vladimir Skorodenko

(Übersetzung aus dem Russischen)

Sehr geehrte Frau Dr. Kathinka van Weringh,

sehr geehrter Herr Dr. Fürst,

hochverehrte Gastgeber dieses schönen Festes,

meine Damen und Herren, Kollegen, Freunde!

 

Dieser Tag, den wir heute erleben, ist ein ganz besonderer – feierlicher, lichter und ungemein erfreulicher – der Tag der Verleihung eines besonderen Preises an einen ganz besonderen Menschen.

Dieser Preis trägt den Namen des Vaters Aleksandr Men' – des bedeutenden russischen religiösen Philosophen und Denkers, des bei seinen Lebzeiten praktizierenden Geistlichen der Russischen Orthodoxen Kirche, des Erzpriesters, des Kirchenvorstehers, des kirchlichen Hirten, dessen Dienst an seinem Kirchenvolk durch den märtyrerhaften Tod gewaltsam unterbrochen wurde.

Vater Aleksandr hat sein Leben für die von ihm tief ausgetragene Idee des großen religiösen und kirchlichen Ökumenismus im weitesten, die ganze Welt umfassenden Sinne geopfert – für die Idee der Einigung nicht nur der Christen (abgesehen von ihrer Zugehörigkeit zu der oder jener Richtung innerhalb des  christlichen Glaubensbekenntnisses), sondern der Einigung von Gläubigen aller Konfessionen ohne Ausnahme, ohne Rücksicht darauf, zu welchem Gott sie ihre Gedanken richten. Welchen Gott sie anbeten - Hauptsache war, dass sie den Gott anbeten, der alles Gute, Barmherzige, Schöpferische verkörpert – und nicht seinen ewigen Widersacher, der alles verruchte, Böse, Zerstörerische in sich vereinigt und der in jeder Religion seinen unreinen Namen hat.

Die Gedanken und Fragen des Vaters Aleksandr richteten sich auf den - allerdings nicht nahen - Zustand der ganzen Menschheit, von dem der größte und harmonischste russische Dichter Aleksandr Puschkin sprach als von „… Zeiten, wo die Völker vergessen würden allen Zwist und Streit als Glieder eines großen Brüderbundes". Der gute Wille des Geistes – das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Erreichen solcher Einigung. Der Religion, genauer gesagt, den Religionen und ihren Dienern steht es noch bevor, viel Mühe in dieser Richtung aufzubringen und viel Arbeit zu leisten - nachdem von ihnen bereits unvorstellbar viel geleistet wurde. Und sie werden damit fertig werden - da kann es keine Zweifel geben. Die hohen geistigen Bestrebungen der Kirche tragen ihre Früchte auf dem weltlichen Niveau, die Welt aber sowohl in religiöser als auch in weltlicher Hinsicht – ist gespalten. Sie ist gespalten durch Vorurteile, Intoleranz, Feindseligkeit, Ressentiments, bedingt durch Unterschiede in Lebensstandards der Völker sowie durch elementare Unbildung, Unwissenheit, Unkenntnis dessen, was die anderen Völker – auch Nachbarvölker – sind. Wie und wovon sie leben, was die Eigenart ihrer Kultur ausmacht, welche Werte sie hochzuschätzen pflegen – im geistigen sowie alltäglichen Leben, wodurch jeder Tag ihrer gewöhnlichen Existenz gefüllt wird.

"Fremder", „Fremdling", "Auswärtiger" – das sind schreckliche Worte, sie sind Abdruck und Ergebnis der lange, hartnäckig und nicht ohne Erfolg praktizierten kulturellen innerweltlichen Beschränktheit, des – sozusagen – kulturellen Analphabetentums. Das gegenseitige Kennenlernen der Völker, die bessere Kenntnis voneinander ist die zweitwichtigste Voraussetzung für die Annäherung und Einigung der Völker – was in unserer durch das Böse geladenen Zeit nicht weniger als ihrem überleben gleichzusetzen wäre. Denn das Wissen führt zum gegenseitigen Verständnis – zur Toleranz – zur Achtung-zur Annäherung und Freundschaft der Völker -gerade in dieser Reihenfolge.

In diesem Sinne findet die ökumenische Tätigkeit des Vaters Aleksandr im weltlichen Tun derer ihren Niederschlag, die heute durch ihre selbstlose alltägliche Arbeit den Menschen verschiedener Völkerzugehörigkeit helfen, einander näher kennen und verstehen zu lernen und - wie man im alten Russland zu sagen pflegte - "gebührend Achtung zu zollen". Es ist deswegen natürlich und verständlich, dass der internationale Preis, der heute zum ersten Mal verliehen wird – was speziell hervorzuheben wäre –, für einen besonders bedeutsamen Beitrag zur Förderung der deutsch-russischen Kulturbeziehungen zur Annahme der Völker zuerkannt wird und den Namen des Vaters Aleksandr trägt.

International wird der Preis deshalb genannt, weil er gemeinsam – durch die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der Zeitschrift für Ausländische Literatur in Moskau und die Russische staatliche Bibliothek der ausländischen Literatur (Moskau) – gestiftet ist. Gestiftet also von den Organisationen zweier Staaten, die in relativ naher Vergangenheit – in Zeiten des "Kalten Krieges" noch Gegner waren und in fernerer – in einem buchstäblich "heißen", dem Zweiten Weltkrieg (für Russland – dem Vaterländischen Krieg) - einander feindlich gegenüberstanden.

Es hat sich so ergeben, dass zwei große Länder und ihre Völker, seit jeher gewohnt, im Frieden und Einvernehmen miteinander zu leben, zwei Völker, die übereinander komische und nicht beleidigende Mythen geschaffen haben - vom zügellosen russischen Lümmel in Deutschland und vom hagerbeinigen deutschen Schlaukopf in Russland-, in die Hölle gegenseitiger Vernichtung hineingestürzt wurden durch böse Verführung durch menschenfeindliche Ideologie, deren Träger der teuflische Hitler und der Kriminelle Stalin waren. Aber auch dann blieb der Geist der großen Nation, verkörpert in ihrer Kultur, in Gestalten wie Bach, Dürer, Goethe, Schiller, Heine, in Russland erhalten, wenn auch auf die Peripherie des gebildeten russischen Bewusstseins verdrängt.

Das letzte möchte ich einigermaßen klarstellen. 1942, als der Ausgang des Krieges bei weitem noch nicht entschieden war, hat einer der populärsten Dichter des Landes jener Jahre, vom Deutschen sprechend, seine Landsleute  aufgerufen: "Wie viel mal du ihn (= den Deutschen) siehst, sovielmal sollst du ihn auch töten" (später, in den Nachkriegsausgaben dieses Textes, wurde das Wort "Deutsche" durch "Faschist" ersetzt), - also in diesem Jahr in der damaligen Sowjetunion wurde ungeachtet des Krieges eine Neuausgabe des Goetheschen "Faust" in russischer Übersetzung vorbereitet und herausgebracht, dazu noch in der Serie "Schulbibliothek"- für die Jugendlichen also. Die damalige sowjetische "Obrigkeit" verfolgte, indem sie dies  Ausgabe bewilligte (die Ausgabe gibt es übrigens im Buchbestand meiner Bibliothek), ohne Zweifel ihre eigenen ideologisch-propagandistischen Ziele, aber diese Sache erlangt heute einen symbolischen Sinn: Wer da einander bekämpfte, so waren es nicht die Völker, sondern die ideologisierten Diktaturen, die ihre irregeführten Landsleute skrupellos ins Gefechtsfeld und ins Verderben schickten. Die Nationalkulturen - allein durch die bloße Tatsache ihrer Existenz - standen, soweit es möglich war, der gegenseitigen Verbiesterung und Entgeistigung entgegen.

Heute gibt es keine Hindernisse dafür, dass sich diese Kulturen, ihre Völker, wirklich näher kommen. Denn die Kultur – das ist das Schöne einer Nation, "und durch die Schönheit", so glaubte Fjodor M. Dostojewski, "wird die Weft gerettet". Ehre denen, die die Kultur in ein wirksames Instrument der Annäherung, d. h Rettung der Völker verwandeln, indem sie neue, ihnen eröffnete Möglichkeiten ausnutzen. Diese selbstlosen Enthusiasten sind der Anerkennung, Hochachtung und tiefen Dankbarkeit würdig. Ich als Vertreter der Russischen staatlichen Bibliothek für ausländische Literatur Moskau, indem ich hier im Namen des Generaldirektors der Bibliothek, Frau Ekaterina Genieva, sowie in meinem eigenen Namen spreche, bin glücklich, auf die erste Person in ihrer Reihe hinzuweisen und den Namen des Preisträgers unseres neugestifteten Internationalen Aleksandr-Men '-Preises für hervorragende Aktivitäten zugunsten der Annäherung der Völker zu nennen – Frau Kathinka Dittrich van Weringh.

Frau Dittrich van Weringh hat das Konzept des ersten deutschen Kulturzentrums in Russland erarbeitet – des heutigen Goethe-Instituts Moskau. Sie hat es geschafft – ihr ist gelungen, das Institut zu gründen und aufzubauen, es ins Leben zu rufen. Sie leitete es in den Jahren von  1991 bis 1994. Es ist nicht nötig, speziell darauf hinzuweisen, wie viel Kraft es unsere Preisträgerin gekostet hat, - darüber hat sie in ihrem Buch „… Russland bleibt uns erhalten…“ selbst erzählt, ein Buch, das durch innige Liebe zu diesem Land sowie von dessen Verständnis durchdrungen ist (die Übersetzung des Buches wurde der russischen Öffentlichkeit im Rahmen einer Festveranstaltung in der Russischen Bibliothek für ausländische Literatur im vorigen Jahr präsentiert). Es genügte zu sagen, dass die Russen innerhalb der kurzen Zeit der Existenz des Moskauer Goethe-Instituts – bei seiner energischen  Vermittlung – mehr über die moderne deutsche Kultur, d.h. über die heutige deutsche Sprache, über die deutsche Lebensweise, über die deutsche Geschichte, Politik, Kunst, Philosophie, Musik, Literatur, Theater und Film, erfahren haben, als während all der Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Genauso viel auch über die tief in der Geschichte unserer Völker wurzelnden Traditionen der gegenseitigen geistigen Bereicherung, des schöpferischen Wettbewerbs und der freundlichen Kenntnisnahme der allgemein bekannten Tatsache, dass in Russland deutsche Gemeinden mit ihrer eigenen Kultur unversehrt existieren – und dementsprechend russische in Deutschland.

Die Russische Bibliothek für ausländische Literatur Moskau war – indem sie mit dem Goethe-Institut seit dessen Gründung eng zusammenarbeitete – imstande, das geistig-kulturelle Ausmaß seiner Tätigkeit sowie praktische Ergebnisse dieser Tätigkeit gebührend einzuschätzen: den schwierigen Prozess der Überwindung beiderseitiger stereotyper Vorstellungen und Vorurteile, die bis heute das kollektive Bewusstsein unserer Völker trüben – und dabei das Bewusstsein der Russen sogar in größerem Maße als das der Deutschen. Dazu gibt es mehrere Gründe, was Russland betrifft – eher innerer als äußerer Art. Es freut mich, dass hier meine Landsleute und Kollegen anwesend sind, denn auch von ihnen, von Journalisten, hängt es ab, ob unser gesellschaftliches Bewusstsein bis zu dem Niveau der dankbaren Annahme und Aufnahme der Kultur anderer Völker in ihrer ständigen Wechselbeziehung zur heimatlichen Kultur gehoben wird, wie dies uns allen das Beispiel der Aktivitäten von Frau Kathinka Dittrich van Weringh zeigt. Ich meinerseits gratuliere Frau Kathinka Dittrich van Weringh zur Verleihung des Internationalen Aleksandr-Men'- Preises für die Leistungen zur Förderung der russisch-deutschen Kulturbeziehungen zugunsten der Annäherung der Völker. Ich bin mir bewusst, dass es sich nur um eine nominelle Anerkennung der Verdienste unserer Preisträgerin handeln kann, denn sie leistet ihre Dienste, wie die alten Römer sagten, durch ihre Taten, und nicht durch Worte – Re, non verbis. Möge Gott Ihnen helfen in all ihrer Arbeit, liebe Kathinka!

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!


Es gilt das gesprochenen Wort!

Programm

Begrüßung
Dr. Gebhard Fürst,
Direktor der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart

"Der schwere Weg zum Dialog" - Rede
Boris Chlebnikow,
Verleger, Moskau

Laudatio
Dr. Vladimir Skorodenko,
Bibliothek für Ausländische Literatur, Moskau


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