Gendering der Erinnerung?

Schon zum 23. Mal traf sich der Arbeitskreis Geschlechtergeschichte der frühen Neuzeit in Hohenheim. Dieses Mal im Mittelpunkt: Traditionen und Tradierungen.

Der Arbeitskreis Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit tagte vom 26. bis 28. Oktober 2017 im Tagungszentrum Hohenheim unter der Leitung von Prof. Dr. Claudia Opitz-Belakhal (Basel), Dr. Monika Mommertz (Basel) und Johannes Kuber (Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart) bereits zum 23. Mal  und behandelte Themen und Aspekte der Geschlechtergeschichte unter dem Titel „Traditionen – Tradierungen“. Die Tagung nahm informelle sowie institutionalisierte Rezeptionen und Rekonstruktionen von Geschlechterordnungen und Geschlechterdifferenzen in den Blick. Im Zentrum der Tagung standen vor allem Konstrukte der Geschlechterdifferenz, deren kritische Hinterfragung und somit auch das Spannungsfeld zwischen historischen Gegebenheiten und menschlicher Überlieferung. Die TagungsteilnehmerInnen gingen außerdem der Frage nach, über welche Vermittlungsprozesse Geschlechterdifferenzen tradiert wurden.

Eine Einführung in das Thema gab Monika Mommertz, die hervorhob, dass Traditionen und Tradierungen als Verweis auf die Historizität der Gesellschaft zu sehen seien. Zentrale Fragen der Traditionsbildung seien, welche Traditionen seit Jahrhunderten Bestand hätten, wo Kontinuitätslinien zu finden und auch  Brüche zu verorten seien.

Gendering von Traditionsbildung – Gendering der Erinnerung?

Am Abend des ersten Tages führte Prof. Dr. Ulrike Gleixner von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel mit ihrem Vortrag „Geschichtsschreibung als produktive Praxis und Traditionsbildung - Forschungserfahrungen und Perspektiven aus der Geschlechtergeschichte“ weiter ins Thema ein, indem sie zunächst auf das Verhältnis von Traditionsbildung und Quellenlage einging. Betrachte man beispielsweise die Bibliotheksgeschichte, so sei zu sehen, dass es eine Konzentration auf  den Buchbesitz von Männern gebe, was aus der Quellenlage resultiere. Privatbibliotheken seien schlichtweg „nur“ von Männern überliefert. Die Problematik bezüglich eines  „Gendering von Traditionsbildung“ griff Gleixner auf, indem sie auf ein berühmtes Beispiel verwies: das Evangeliar Heinrich des Löwen UND seiner Frau Mathilde. Das Evangeliar ist als ehemals teuerstes Buch der Welt und Prachthandschrift Heinrichs des Löwen bekannt. Seine Frau Mathilde erfahre einen Ausschluss aus dem öffentlichen Gedächtnis, obwohl es explizit eine Stiftung des Herrscherpaares, nicht nur eine Stiftung Heinrichs gewesen sei, so Gleixner. Diese monogeschlechtliche Traditionsbildung habe zur Folge, dass Mathilde diesbezüglich in den Bereichen der Frömmigkeits-, Stiftungs- und Historiographiegeschichte quasi nicht vorhanden sei. Sie nachträglich als Mitstifterin zu postulieren, sei schwierig, die Traditionsbildung sei nicht mehr rückgängig zu machen. Die TeilnehmerInnen der Tagung waren sich darüber einig, dass diesem und ähnlichen Zuständen unter anderem  in der Museums- und Ausstellungsarbeit bewusst entgegengewirkt werden und die Geschichtswissenschaft Mathilde als Mitstifterin selbstverständlich in die Geschichtsschreibung integrieren müsse. „Es geht nicht mehr nur um Vergessen, sondern um Blindheit!“ – sagte Claudia Opitz-Belakhal in der anschließenden Diskussion bezüglich eines Gendering der Erinnerung.

Traditionskritik und Adaptionen

Dr. Pascal Firges (Paris) begann den zweiten Tagungstag mit seinem Vortrag zu „Tradition und Kritik der Geschlechterordnung in der französischen Erziehungsliteratur für adelige Frauen im 17. und 18. Jahrhundert“ und bot zunächst einen Überblick über die Erziehungsliteratur, kam dann auf den darin erkennbaren Umgang mit der herrschenden Geschlechterordnung zu sprechen und behandelte schließlich „Les Instructions à la classe jaune“ von Madame de Maintenon aus dem Jahr 1700. Laut ihr sei die Untergeordnetheit von Frauen von Männern verursacht worden, also die Ordnung der Geschlechter durchaus menschengemacht. Die Arbeit von Firges sucht einen Zugang zu zeitgenössischen Diskursen der gemischtgeschlechtlichen Soziabilität. Laut Firges sei in der Erziehungsliteratur eine Art „palliative Herangehensweise“ auszumachen, da oftmals eine Empfehlung enthalten sei, wie man unter den damaligen Gegebenheiten – unter anderem der Geschlechterdifferenz – am besten agieren sollte.

Die Musikwissenschaftlerin Dr. habil. Corinna Herr (Bochum) ging in ihrem Vortrag zu  „Boccaccios Griselda und ihre Adaptationen in der Oper des frühen 18. Jahrhunderts“ auf das dramma per musica als Medium der Tradierung von Geschlechtergeschichte ein. Sie zeigte, dass die Sängerinnen gelegentlich einen Impetus in der sonst eher von Männern dominierten Opernwelt setzen konnten, das Bild Griseldas in den drammi jedoch überwiegend ein einheitliches war und ihr Gatte Gualtiero stets als positive Figur dargestellt wurde. 

„Besitz, Recht und Geschlecht in der politischen Theorie der frühen Neuzeit“ – so lautete der Vortragstitel von Amelie Stuart (Graz), der sich an ihr Dissertationsprojekt anlehnte. In den philosophischen Theorien seien Frauen außerhalb der politisch relevanten Ordnung verortet worden, weshalb von einer Marginalisierung von Frauen in der theoretischen Philosophie gesprochen werden könne. Frauen, so stellte Stuart fest, seien nicht als Subjekte der öffentlichen Sphäre in Betracht gezogen worden.

Traditionen und Tradierungen in der Praxis

Sarah-Yasemin Stefanic M.A. (Berlin) stellte mit ihrem Vortrag “Visuelle Kommunikation in süddeutschen Frauenklöstern” ihr laufendes Dissertationsprojekt vor, in dem sie Sehen als sinnesgeschichtliche Kategorie zu fassen versucht und so die Klosterfrau als sehendes Subjekt in den Mittelpunkt stellt. Sie begreift das Sehen der Klosterfrauen als sensorische Praxis, die unter anderem Geschlechterkonstruktionen unterlag.

Einen kunstgeschichtlichen Zugang zum Thema bot Dr. Maike Christadler (Basel) mit ihrem Vortrag „Die Künstlerin im Gehäuse. Weibliches Kunstschaffen in der Beurteilung der Zeitgenossen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert“. Zu Beginn zeigte sie ein Bild von Mariechen Danz, eine Art Selbstinszenierung als Künstlerin, in dem sie sich auf die malerische Tradition der Venusbilder beruft. Schon der Titel von Christadlers Vortrags bezog sich auf eine Tradition, und zwar auf die des heiligen Hieronymus im Gehäuse. Künstlerinnen der Frühen Neuzeit hätten Selbstportraits nach der Tradition des Hieronymus konstruiert, so Christadler. Von frühneuzeitlichen Künstlerinnenateliers im Allgemeinen schlug sie den Bogen über Künstlerinnen wie Elisabetta Sirani oder Angelika Kaufmann bis zu der Frage, wie eben jene Künstlerinnen wahrgenommen wurden. Die Künstlerinnen hätten vom Malen leben können, Angelika Kaufmann sei gar Teil des sozio-kulturellen Faszinosums Rom gewesen. Wenn diese Stellung heute verkannt würde, sei dies ein Problem der Historiographie und Traditionsbildung.

Tradierungen – Transformationen

Dr. Anna Becker (Basel/Zürich) eröffnete den letzten Tagungstag mit ihrem Vortrag „La traduzion del Indio. Geschlecht, Tradition und Tradierung in den Comentarios reales des Inka Garcilaso de la Vega“ und diskutierte, wie Garcilaso de la Vega, Sohn einer hochrangigen Inka und eines spanischen Conquistadors, sich in seinem Hauptwerk auf sein mütterliches Erbe bezogen habe.  

Mit dem Vortrag „Vom Vater zum Sohn. Die Tradierung adliger Haltungen als Faktor der monogeschlechtlichen Organisation der millitärischen Führungsebene in der Frühen Neuzeit“ stellte Christof Muigg M.A. (Wien) sein laufendes Dissertationsprojekt vor. Im Rahmen dieser Arbeit arbeitet er mit dem Tracer-Konzept von Monika Mommertz. Laut Muigg seien Erziehungsinstruktionen tradiert worden, welche zu einer monogeschlechtlichen Organisation der militärischen Führungsbene in der Frühen Neuzeit geführt hätten.

Tim Rütten M.A. (Wien) bot einen Einblick in das Thema „Dienstmägde im Bann religiöser und weltlicher Tradierungen - Wie Traditionen Kollektivsubjekte und Kollektivsymboliken produzieren“ und somit ebenfalls in sein laufendes Dissertationsprojekt. Rütten sieht Mägde als Kollektivsymbole an, die kollektiv tradiert und benutzt würden. 

Roundtable-Diskussion: Wo steht die Geschlechtergeschichte heute?

Viele der in einzelnen Vorträgen angesprochenen Themen wurden in einer Roundtable-Diskussion noch einmal aufgegriffen, die von Claudia Opitz-Belakhal geleitet wurde und an der Monika Mommertz, Dr. Annalena Müller (Basel) und Christof Muigg teilnahmen. Angelehnt an den Titel „Geschlechtergeschichte und/oder Frauengeschichte? Divergierende Ansätze im (Streit-?)Gespräch“ stellte Claudia Opitz-Belaklhal zur Diskussion, was das Forschungsfeld „Geschlechtergeschichte“ zu leisten habe und wie es sich weiterentwickeln solle. Christof Muigg plädierte dafür, mit offenen Kategorien zu arbeiten und sich nicht auf vorhandene theoretische Konstrukte zu beschränken. Nur so könne man ganzheitlich arbeiten und vermeiden, dass bestimmte Erkenntnisse im Vorhinein ausgeschlossen würden. Annalena Müller verwies darauf, dass es bei der Rekonstruktion von historischer Realität keine Hierarchien geben sollte, sondern lediglich Unterschiede. Bestehende Kategorien sollten relativiert werden. Monika Mommertz zufolge könnte dies erreicht werden, wenn man mit Markierungen anstatt mit Etiketten arbeiten würde. Nach diesem Konzept würde man beispielsweise den Begriff „weiblich markierte Personen“ verwenden, was einen weiteren und systematischeren Blick eröffnete. Anhand von Quellen könnten solche Markierungen erschlossen werden. Die Frage, ob es die Unterscheidung „sex vs. gender“ für die Forschung zur Frühen Neuzeit noch brauche, verneinten alle Diskussionsteilnehmenden.

Die Tagung hob hervor, dass Traditionen und Tradierungen Reproduktionsmechanismen sind, die Geschlechterverhältnisse und -differenzen konstruieren und perpetuieren. In diesem Kontext wurde deutlich, dass „Gendering von Traditionsbildung“ gleichsam „Gendering der Erinnerung“ heißt. Außerdem wurde in der Schlussdiskussion hervorgehoben, dass Traditionen womöglich immer auch Traditionsbrüche enthalten und langfristige Prozesse somit nicht immer als einheitlich angesehen werden können. Eine Frage Claudia Opitz-Belakhals blieb am Ende unbeantwortet im Raum stehen: „Konstruieren wir mit der Historiographie Traditionen, die für die Menschen damals überhaupt nicht existiert haben?“ Sie wird wohl nie abschließend beantwortet werden können.

Die 24. Tagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit wird vom 25.-27.10.2018 in Hohenheim stattfinden. Das Thema steht noch nicht fest.  Ramona Platz (Praktikantin der Akademie)

 

 

 

 

 

Dr. Anna Becker und Dr. Maike Christadler (von links)

Die Tagungsleitung: Johannes Kuber, Dr. Monika Mommertz und Prof. Dr. Claudia Opitz-Belakhal (von links)

Gedankenaustausch am Kaffeetisch