Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 2002

Anatoli Pristawkin

Worte zur Preisverleihung

Hermann Fünfgeld

[Audio-Datei]

Sehr geehrter Herr Pristawkin, verehrte Frau Pristawkina,
meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde und Gäste der Akademie, die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat sich in ihrem Gründungsstatut vor 51 Jahren verpflichtet, eine lebendige Beziehung zwischen der Kirche und der Welt herzustellen, diese Begegnungen zu stabilisieren und in vielfältigerweise zu verwirklichen.

Der heutige Abend fügt sich in besonderer Weise in diesen Auftrag ein; unsere Zusammenkunft signalisiert im übrigen, dass der Aktionsradius unserer Akademie auch nationalen und internationalen Ansprüchen sehr wohl genügt.

Der Tag der Aleksandr Men Preis-Verleihung hat inzwischen eine feste Tradition. Die Stätte der Preisübergabe im Zentrum der Landeshauptstadt gehört zu diesen festen Positionen und bestätigt, dass die Akademie mitten im Leben, mitten in der Gesellschaft verankert ist und dort in die Öffentlichkeit hineinwirkt. Das Kuratorium und der große Kreis von Freunden und Förderern der Akademie sind erfreut über den großen Zuspruch, den diese Veranstaltung erfährt. Wir verstehen dieses Interesse als ein offenkundiges Zeichen und eine Anerkennung für die verantwortungsvolle Arbeit, die in unserer Akademie geleistet wird.

An vorderer Stelle der Akademiearbeit steht die Bereitschaft zu einem offenen Dialog zwischen interessierten Menschen und Gruppen. Es klingt wie eine strategische Aufforderung, was der Namensgeber des Preises Aleksandr Men 1990 in Weingarten ausgesprochen hat: Die Kulturschaffenden haben eine große Verantwortung bei der Vermittlung des eigenen Beitrages zur künftigen Ökumene der Kulturen!

Dieser Appell sollte Leitbild für die Entwicklung und für den Ausbau des Dialogs bleiben und sollte das Denken, die Sprache und das Handeln der Menschen bestimmen, die -wenn man unsere heutige aktuelle Befassung mit dem Umgang der Menschen untereinander verfolgt -keineswegs so verläuft. Unsere Gesellschaft ist derzeit nur begrenzt dialogfähig, es mangelt an der richtigen Sprache, es mangelt an einem verantwortlichen Umgang mit vielen Themen im politischen, sozialen und kulturellen Alltag, es mangelt noch mehr an Nachdenklichkeit, an kritischen Reflektionen und an dem Willen, bei aller zu beachtenden Festlegung der eigenen Positionen, den Dialog unvoreingenommen zu suchen und nach einem Ausgleich bemüht zu sein.

Unsere Gesellschaft lebt weitgehend von der hastigen Suche nach immer neuen Events, sie leidet an keinem Mangel an Ablenkung und Zerstreuung. Es fehlt uns in keiner Weise an Informationen und Vernetzung, wir verfügen über alle technischen Austauschprogramme und stellen gleichzeitig eine große Sprachlosigkeit fest. Unsere Spaßgesellschaft favorisiert den Aktionismus - nicht das Zuhören. Das Hämmern immer neuer Ereignisse wird zum Motor des aktiven Lebens hochstilisiert und verhindert gleichzeitig den Dialog untereinander.
Es ist eine hohe Auszeichnung und es verdient unseren Respekt, dass gerade die evangelischen und katholischen Akademien den Dialog im Sinne einer offenen, zum Nachdenken zwingenden Aussprache suchen im Sinne des Respektes vor des anderen Meinung.

Wenn ich die Laudatio richtig verstanden habe, fügt sich die ganze politische, literarische und soziale Lebenswelt von Anatoli Pristawkin in dieses Geflecht der sich abzeichnenden Entwicklung eines friedlichen und humanen Aufbaus des Europäischen Hauses nahtlos ein. Die Akademie bleibt dabei ihrer Grundhaltung treu und bestätigt ihre eigene Glaubwürdigkeit, wenn sie die heutige Preisvergabe zusammen mit den anderen Trägern in der Tradition fortsetzt, die die bisherigen Auszeichnungen seit 1995 bestimmt haben. Heute erfährt die Reihe der ausgezeichneten Persönlichkeiten eine neue Bereicherung und eine ehrenvolle Erweiterung in der Person des Literaten und Menschenrechtlers Anatoli Pristawkin.

Der zu Ehrende hat mit dazu beigetragen, dass der Austausch der Kulturen und damit die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland eine "Tuchfühlung" eigener Art darstellt, wie sie vom Akademiedirektor treffend beschrieben wurde. Wir erleben und erfahren die Tuchfühlung mit einem Land und mit seinen Menschen, die noch auf der Suche nach einem neuen Weg sind und die noch manche Hürden zu bewältigen haben werden, bis das Gefüge einer neuen Ordnung erkennbar wird. Die politischen, rechtlichen, sozialen und gesellschaftlichen Prozesse und Reformen sind in Bewegung gekommen, es zeichnen sich Veränderungen ab und die Erwartungen auf stabile Verhältnisse sind groß. Vielleicht lässt sich das Ziel über den kulturellen Umweg, über das Wort und die Sprache des Dichters, des Literaten und des Kulturschaffenden leichter finden!

Es kann kein Zweifel bestehen, dass in der Persönlichkeit von Herrn Pristawkin eine Wahl getroffen wurde, die der Ökumene der Kulturen gerecht wird, die durch das persönliche Eintreten für die Würde des Menschen und vor allem des leidenden Mitbürgers Maßstäbe gesetzt hat. Sein beharrliches Eintreten für die Weiterentwicklung von Reformprozessen ergänzt diese menschendienlichen Hilfestellungen im Sinne einer staatlichen Neuorientierung.

Der heutige Preisträger ist anerkannt und geachtet. Eine große Zahl renommierter Veröffentlichungen - darunter einige in die deutsche Sprache übersetzt - künden von dem schriftstellerischen Werk des zu ehrenden Literaten. Seine politische Wirksamkeit konnte durch den Vorsitz in der Begnadigungskommission des russischen Präsidenten bestätigt werden und zeigt seine Grundhaltung zur Frage der Menschenrechte.

Wir können - fern vom wirklichen Geschehen - und oft nur über wenige Informationen verfügend, nur hoffen und darauf vertrauen, dass sich Menschen guten Willens verantwortungsvoll in diese großen Reformen einschalten und damit eine positive Veränderung in einem Land mitbewirken, das immer noch im Aufbruch und Umbruch steht.

Dank seiner Persönlichkeit, unterstützt durch die Stärke seines Wortes und in der festen Überzeugung, für eine gute Sache einzutreten, hat Anatoli Pristawkin diesen politisch und menschlich mühsamen Weg beschriften und gleichzeitig damit aufgezeigt, welche Chancen in einer aktiven Zivilgesellschaft bestehen. Solche mutigen persönlichen Einsätze verdienen auch eine öffentliche Anerkennung. Wir hoffen sehr, dass mit der heutigen Auszeichnung wenigstens ein Zeichen für dieses hoffnungsvolle Wirken gesetzt wird und dass der Geehrte dieses auch als Ansporn für weitere Initiativen versteht.

Die den Aleksandr Men-Preis tragenden Einrichtungen
- die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
- die Zeitschrift für Ausländischen Literatur in Moskau
- die allrussische Bibliothek für Ausländische Literatur (zusammen mit dem Kreis der Freunde von Aleksandr Men)
- die Europäische Akademie für Zivilgesellschaft
- und das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen
ehren mit der heutigen Preisvergabe den aufrechten Streiter für Menschenrechte und für demokratische Reformen in einem Sinne, wie es unser früherer Bischof mit dem guten Begriff der "Menschendienlichkeit" ausgedrückt hat.

Ich darf im Namen der genannten Institutionen diese Urkunde übergeben und Ihnen, sehr geehrter Herr Pristawkin, sehr herzlich gratulieren.


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Begrüßung
Dr. Abraham P. Kustermann,
Akademiedirektor

Grußwort
Dr. Johannes Kreidler,
Weihbischof, Diözese Rottenburg-Stuttgart

Grußwort
Dr. Ekateria U. Genieva,
Generaldirektorin der Allrussischen Bibliothek für Ausländische Literatur, Moskau

Grußwort
Boris Chlebnikow,
Vizepräsident der Europäischen Akademie für Zivilgesellschaft, Moskau

Laudatio
Thomas Reschke,
Literatur-Übersetzer, Berlin (Übersetzer von A. I. Pristawkin)

Preisverleihung
Hermann Fünfgeld,
Stv. Vorsitzender des Kuratoriums der Akademie der Dözese Rottenburg-Stuttgart

Dankesworte
Anatoli I. Pristawkin

Bericht aus der Stuttgarter Zeitung

Bericht aus den Stuttgarter Nachrichten



Über Anatoli Pristawkin:

Lebenslauf Pristawkins

Preise und Auszeichnungen

Bibliografie

Weitere Informationen zu Anatoli I. Pristawkin auf Wikipedia


Über Thomas Reschke:

Lebenslauf Reschkes

Auszeichnungen

Wichtigste Übersetzungen