Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 1998

Tschingis Aitmatow

Dankesrede

Tschingis Aitmatow

„Heute gedenken wir wieder einmal Aleksander Mens, eines herausragenden Humanisten und Theologen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Ich hatte seinerzeit die Ehre diesen Mann persönlich zu kennen. Er kannte unsere Familie, unsere Kinder, die damals zur Schule gingen. Wir waren stolz darauf, daß ein Intellektueller von solchem Format, ein kirchlicher Denker, Prediger und Redner der Gegenwart – er vereinte all diese Eigenschaften bewundernswert in sich – mit uns und unter uns war, unsere Sorgen und Kümmernisse um die täglichen irdischen Probleme mit uns teilte.

In diesem Zusammenhang eine kurze Abschweifung. Ich denke, viele erinnern sich noch gut an unsere jüngste Geschichte, als Friedensaufrufe und -parolen überall, wo unser Wort auch nur hingelangte, in West und Ost, unser Refrain waren. Das war eine wahrhaft epochemachende Suche nach Wegen zu einem gemeinsamen Überleben, ein Aufschwung des menschlichen Strebens nach Einigung, ein Versuch, die Auseinandersetzung zwischen zwei ideologisch gegensätzlichen Welten, wo die Berliner Mauer als Verkörperung des Bösen auf dem Planeten und als Ausdruck der Zerrissenheit der Welt angesehen wurde, zu überbrücken. Bei einer meiner Ansprachen gebrauchte ich damals, um bildlich zu wirken, den Ausdruck „Unsterblichkeitswille der Menschheit“, wobei ich meinte, daß sich dieser Wille gerade in dem unablässigen Friedenskampf äußere.

Scheinbar nichts Besonderes, eine für die damalige Zeit typische Äußerung, Vater Aleksandr fiel sie jedoch auf. „Sie hatten recht“, meinte er, „Sie haben es in die Ferne gesagt: der Unsterblichkeitswille. In die Ferne ...“ Aleksandr Men war eine umfassend denkende, facettenreiche Persönlichkeit, über ihn könnte man lange reden ...

Wenn man von den Details absieht und zu den globalen Aspekten der Vergangenheit und Gegenwart zurückkehrt, muß gesagt werden, daß das Phänomen Alexander Men ein übriges Mal belegt: Jede Epoche geht mit ihren Personen und ihren Taten in die Geschichte ein, jede Epoche hinterläßt ihre Spuren sowohl in den neuen Entwicklungslinien als auch in den Brüchen und Krisen, die ihr widerfahren.

Die Perestroika ist hier keine Ausnahme. Die in unserem Gedächtnis immer noch fortlebende Epoche der Perestroika, die die demokratischen Stimmungen gewaltig aufsteigen ließ, heute jedoch von vielen mißbilligt und von vielen im Gegenteil nach wie vor als Selbstreformierung, die in der Weltgeschichte ihresgleichen sucht, eingeschätzt wird, die vielen Ländern der Welt Wege zur Überwindung des repressiven Totalitarismus des 20. Jahrhunderts wies, prägte eines der markantesten und bedeutsamsten Kapitel der modernen Geschichte.

Gerade in dieser Umbruchzeit kam Aleksandr Men zu uns. Sein Auftauchen in der Öffentlichkeit brachte etwas grundsätzlich Neues, qualitativ Unterscheidbares mit sich, er kam gleichsam als Stimme des inneren geistigen Potentials. Er gehörte ja nicht zu den Dissidenten, die das Feuer auf sich lenkten und dadurch einen Widerstand auslösten, er war weit davon entfernt, die Auseinandersetzung zwischen der Kirche und dem Sowjetstaat durch das Anfachen von Leidenschaften auf religiöser Grundlage zu radikalisieren. Er nahm weder an Parlamentsdebatten noch an Lobbys, noch an Kundgebungen teil.

Als Denker der christlichen Glaubenslehre, die den Menschen in allen harten Zeiten mitleid- und teilnahmsvoll beisteht, als hervorragender Träger liberaler Stimmungen, die der Intelligenz der 80er Jahre eigen waren, fügte sich Aleksandr Men in die Perestroika wie in das ihm beschiedene Los ein.

Er war gerade jene Persönlichkeit, in deren Auffassungen die strategischen Einsichten unserer Epoche ihren Ausdruck gefunden haben: die globalen Ideen der gegenseitigen Verständigung, des Zusammenwirkens und darüber hinaus einer Partnerschaft zwischen Kulturen und Religionen auf der Grundlage der weltumgestaltenden Demokratisierungsprozesse. In diesem Sinne war Aleksandr Men ein geistiger Vorläufer des Universalismus und der Ökumene der Kultur- und Geisteswerte. Ich nenne ihn für mich einen Apostel der kulturellen Ökumene.

Jahre vergehen. Die strategische Aufgabe der Ökumene in der postindustriellen Epoche – die Suche nach Lösungen im Rahmen der universellen Auffassung von Einheit und Vielfalt der modernen Kulturen – bekommt heute neue Dimensionen. Eine immer größere Bedeutung erlangen die von der UNESCO hervorgebrachten Ideen über die Erarbeitung und Pflege einer Kultur der Friedensliebe, die man den Menschen anerziehen muß. In diesem komplexen und vielseitigen Begriff, der seit einiger Zeit – nach der Beendigung des Kalten Krieges, der ideologischen und Blockkonfrontation zwischen Ost und West – aktiv in unseren Alltag eindringt, haben sich die Hoffnungen der Menschen konzentriert.

Auf diesem Wege müssen wir uns alle, muß sich jede Intellektuellengemeinschaft die neuen Dimensionen des Humanismus, der Toleranz, des Einvernehmens und der Partnerschaft auf allen Ebenen der gesellschaftlichen, nationalen und konfessionalen Beziehungen zu Eigen machen. Die Menschheit betritt in diesem Sinne den Weg der größten Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung, der seit der Welterschaffung beispiellos ist.
Die Menschheit hat keine umfassendere und keine kompliziertere Aufgabe als die, eine Kultur der Friedensliebe als Gegensatz zum Gewalt- und Kriegskult hervorzubringen. Es gibt keinen Bereich der menschlichen Existenz – von Politik bis Ethik, von Grundschule bis zu hoher Wissenschaft, von Kunst bis Religion –, wo der menschliche Geist nicht mit der universellen Idee des Gewaltverzichts konfrontiert wäre. Wie ist dies jedoch zu erreichen, ist das nicht eine totale Utopie? Welche Motive und Handlungen könnten solche unerhörten Zielsetzungen einer bewußt eingeleiteten Evolution rechtfertigen und Wirklichkeit werden lassen? Die Welt kann ja nicht ohne Meinungsdifferenzen existieren – sind wir also wirklich imstande, die fatale Angewohnheit des Menschengeschlechts abzuschütteln? Sind wir imstande, den genetisch verankerten Instinkt des schonungslosen Existenzkampfes zu überwinden? Werden die Vernunft und die Logik des Dialogs die ewige Verdammnis der Menschheit, Krieg und Gewalt, überwältigen und als Grundlage für eine neue Zivilisation, die die Futurologen eine humanistische nennen, dienen können? Die Zukunft wird es zeigen ... Solch eine Aufgabe wurde in der Geschichte noch nie gestellt.

Bei der Suche nach gemeinsamen Wegen zum Universalismus als globale Konzeption der Weltentwicklung gibt es leider Verständnis- und Verständigungsschwierigkeiten, die um so größer werden, wenn man lautstark einen fatalen Zusammenstoß von Zivilisationen im anbrechenden Jahrhundert voraussagt. Man prophezeit somit eine Kollision von Kulturen, Religionen, Traditionen, Philosophien und Erkenntnissen, das heißt von all dem, was das Wesen der verschiedenartigen Zivilisationen auf unserem Planeten ausmacht.

Unter diesen Umständen wird klar, daß das Entgegensetzen von „unser“ und „fremd“ nicht das Gescheiteste ist. Im Gegenteil, nur die Suche nach Möglichkeiten für gegenseitige Bereicherung und Veredelung kann bessere Bedingungen für eine Koexistenz der Zivilisationen auf Makro- und Mikroebene sichern. Die Erarbeitung solcher Möglichkeiten geschieht aber aufgrund der täglichen Praxis. Es gilt, eine Kultur des Dialogs von Zivilisationen aufzubauen, Praktiken und Verfahren einer solchen dialogischen Koexistenz zu erarbeiten und die Ethik eines solchen Dialogs abzustimmen, wobei das Wertvolle und Eigenartige jeder Zivilisation zum Wohle des Humanismus und der Kultur hervorgehoben werden.“


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Grußwort
Bischof Dr. Walter Kasper,
Rottenburg-Stuttgart

Grußwort
Dr. Gregorü Jawlinskü,
Moskau

Grußwort
Eugenia Russinskaya,
Moskau

Laudatio
Friedrich Hitzer,
Wolfratshausen

Preisverleihung
Prof. Dr. Günter Bien,
Stuttgart

Dankesrede
Tschingis Aitmatow

Artikel Stuttgarter Zeitung


Weitere Informationen zu Tschingis Aitmatow auf Wikipedia