Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 1996

Lew Kopelew

Laudatio

Fritz Pleitgen

Bei Lew Kopelew habe ich einen Satz gefunden, den ich für wichtig halte - gerade in unserer heutigen Zeit:

"Eine Politik, die nicht auf Wahrheit baut, ist falsch, ist menschenfeindlich; unabhängig davon, mit welchen Idealprogrammen oder wohlgemeinten Zielen und wissenschaftlichen Theorien sie motiviert wird."

Da sich der Russe Lew Kopelew in der Literatur gut auskennt, bietet er zur Stützung seiner These als Gutachter einen angesehenen deutschen Dichter auf. Es handelt sich um Johann Wolfgang von Goethe, der zum einschlägigen Thema in zwei Zeilen lakonisch feststellte:

"Schädliche Wahrheit, ich ziehe sie vor dem nützlichen Irrtum. Wahrheit heilet den Schmerz, den sie vielleicht uns erregt".

Da auch ich nicht kleinlich sein möchte, bringe ich meinerseits als deutscher Laudator einen russischen Sachverständigen erster Güte ein. In seiner Erzählung "Sewastopol" hat Lew Tolstoi geschrieben:

"Der Held meiner Erzählung, den ich mit allen Kräften meiner Seele liebe, in seiner ganzen Schönheit zu schildern mich bemüht habe, der immer schön ist, war und sein wird, ist die Wahrheit."

Die Wahrheit, die Lew Kopelew so eindringlich fordert, die für Goethe und TOLSTOI höchste Priorität hat, die Wahrheit, sie hat heute einen besonders schweren Stand. Sie wird wie selbstverständlich entstellt, verdreht oder nur bedingt eingesetzt, auf allen Ebenen persönlichen und Gruppeninteressen unterworfen. Geschädigt werden der einzelne und die Gemeinschaft.

Kriege werden ausnahmslos auf Kosten der Wahrheit geführt - heute wie früher, obwohl inzwischen alle Informationsmittel zur Aufdeckung der Unwahrheit zur Verfügung stehen. Wahrheit wird insbesondere vorenthalten, wenn es um Macht geht. In Russland weiß beispielsweise kein Bürger, wie es um den wichtigsten Mann im Staate steht, den sie jetzt als Präsidenten wiederwählen sollen.

Der verächtliche Umgang mit der Wahrheit hat in aller Welt zu einer Glaubwürdigkeitskrise geführt, die kleinste Gemeinschaften und größte Staaten auszuhöhlen droht. Deshalb tut es der Allgemeinheit wohl, wenn Menschen sichtbar oder hervorgehoben werden, denen gefahrlos Glauben und Vertrauen geschenkt werden darf. Dies ist heute bei der Verleihung des Alexander- Men-Preises an Lew Kopelew der Fall.

Lew Kopelew und Alexander Men sind zur gleichen Zeit vom gleichen Regime mit Misstrauen und bösen Schikanen verfolgt worden. Sie sind sich persönlich nie begegnet. Dennoch haben sie vieles gemeinsam, was Toleranz und die Achtung der Menschenwürde angeht.

"Das Eigene lieben, heißt nicht, das Fremde hassen. Wo immer sich der Chauvinismus breit macht - ganz gleich in welchem Volk -, stimmt uns das traurig". Diese Worte von Alexander Men könnten auch gut von Lew Kopelew stammen, der sich allerdings nie mit Feststellungen begnügte, sondern immer mit eigenem Beispiel und auch mit Einmischung dagegen angegangen ist. Das gleiche gilt wiederum für Alexander Men.

Wer war Alexander Men? In der Sowjetunion war er für die Andersdenkenden und die Unterdrückten eine moralische Größe, vor allem in der Zeit vor dem Zusammenbruch der roten Weltmacht. Im Westen ist er bis heute wenig bekannt. Sein umfangreiches Werk als Religionswissenschaftler wurde zwar in Brüssel verlegt, insgesamt 10 Suchtitet, aber alle in russisch. Wer beherrscht schon diese schöne Sprache in unseren Breiten?

Alexander Wladimirowitsch Men wurde am 22. Januar 1935 als Sohn indischer Eltern in Moskau geboren. Es war keine gemütliche Zeit. Nach der Ermordung des Leningrader Parteisektetärs, Sergej Kirow, begann der Stalinsche Terror Amok zu laufen. Innerhalb weniger Jahre wurden Millionen Menschen umgebracht.

Im selben Jahr kam Lew Kopelew nach Moskau. Sein Vater war von Kiew in die Sowjetmetropole versetzt worden. Für den damals 22-jährigen war der Wechsel von Vorteil, denn in der Ukraine hatte es für ihn Probleme gegeben. Er war in Verdacht geraten. Trotzkistische Umtriebe wurden ihm vorgeworfen. Schlimm hat es ihn nach damaligem Standard nicht erwischt. Er wurde nur von der Universität Charkow und aus dem Verband der Jungkommunisten gefeuert. Gerecht fühlte sich Lew Kopelew dennoch nicht behandelt, denn er glaubte in jener Zeit noch an die kommunistische Idee; an Gleichheit, Gerechtigkeit und an den Frieden in der Welt. Unbekannt war ihm eine solche Behandlung indes nicht, denn einige Jahre vorher war er als Jugendlicher schon einmal wegen Trotzkismus eingelocht worden, was seinen ldealismus allerdings nicht bremsen konnte. Fast 50 Jahre später holte ihn die Vergangenheit unerwartet wieder ein. In Göttingen war es, wo Lew Kopelew ein Semester lang lehrte. Ich war zufällig dabei, als ihm junge Menschen ehrerbietig Besuch abstatteten. Es waren die Abgesandten der trotzkistischen Fraktion an der Uni Göttingen, die ihrem unerschütterlichen Vorkämpfer die gebührende Reverenz erweisen wollten.

Geduldig klärte Lew Kopelew seine Besucher auf, dass sie Generationen später falschen Vorwürfen der sowjetischen Geheimpolizei aufgesessen seien. Eine lebhafte Diskussion schloss sich an. Am Ende fanden die feurigen Trotzkisten - die Mädchen Deutsche, die Männer Griechen -, dass sie ein Vorbild verloren, dafür aber ein neues gewonnen hätten.

Lew Kopelew war Zeit seines Lebens ein lnternationalist, ein Weltbürger. In der Nähe von Babi Jar bei Kiew als Sohn jüdischer Eltern geboren wuchs er mehrsprachig auf: ukrainisch, russisch, polnisch und auch deutsch. Genauer gesagt: baltendeutsch, was heute noch seiner Ausdrucksweise anzumerken ist. Denn das Kindermädchen, dem er diese Sprachkenntnis zu verdanken hat, kam aus Riga.

In Moskau studierte Lew Kopelew Germanistik am Institut für Fremdsprachen. Später lehrte er die Geschichte der deutschen und westeuropäischen Literatur. Kurz vor Kriegsbeginn, 1941, promovierte er über Schillers Dramen und Probleme der bürgerlichen Revolution. Was der deutsche Dichter über seine Zeit geschrieben hatte, hätte auch für die Stalin/Hitler-Ära zwischen den beiden Weltkriegen gepaßt: ein Jahrhundert ist im Sturm geschieden, und ein neues öffnet sich mit Mord.

Lew Kopelew war Atheist. Alexander Men wurde getauft, heimlich in Sagorsk von einem versteckt lebenden Priester. Alexanders Vater war nicht gläubig, aber seine Mutter war tief religiös. Sie entschied sich nicht für das Judentum, sondern für die russisch-orthodoxe Katakombenkirche. Das war in jener Zeit lebensgefährlich, denn die Katakombenkirche hat sich nie mit dem Sowjetsystem arrangiert, anders als die offizielle Patriarchatskirche.

Während des 2. Weltkrieges besuchte Alexander Men die Moskauer Schule 554. Sowjet- Patriotismus wurde den Kindern beigebracht, vor allem aber eine stalinistische und atheistische Weltanschauung. Doch der kleine Alexander ließ sich dafür nicht gewinnen. Zu Hause vertiefte er sich in unerwünschte Literatur. Er beschäftigte sich mit russischen Religionsphilosophen wie Berdjajew und Solowjew.

Als Alexander Men 1953 die Schule abschloss, war kurz vorher Stalin gestorben. Der Tod des Diktators bewahrte den jungen Mann vor der Deportation in den GULAG. Statin hatte bereits zum großen Schlag gegen die Juden in seinem Land ausgeholt.

Stalins Tod bedeutete auch für Lew Kopelew die Befreiung, wenn auch nicht sofort. Er hatte sich nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion freiwillig zur Armee gemeldet und gleich verheerende Niederlagen in vorderster Front miterlebt.

Wegen seiner hervorragenden Deutschkenntnisse wurde er sehr bald Offizier einer Propagandaeinheit, die psychologische Kriegsführung gegen die Deutschen betrieb. Seine Untergebenen - darunter Kinder deutscher Emigranten, wie die Söhne des Dramatikers Friedrich Wolf - zitterten vor ihm, wenn er in den Flugblättern Fehler in der Grammatik oder Rechtschreibung entdeckte. "Die Deutschen werden uns nie vertrauen und Hitler nie verlassen, wenn wir mit ihrer Sprache barbarisch umgehen!" soll er die Schreibsünder angedonnert haben, wie mir später Konrad Wolf erzählte. Laune des Schicksals: Wolf war inzwischen Regisseur und Präsident der Akademie der Künste in der DDR, während Lew Kopelew in tiefste Ungnade beim Sowjetregime gefallen war.

Dennoch sprach Konrad Wolf mit unverhohlenem Respekt von seinem ehemaligen Vorgesetzten. Gerechtigkeit des Schicksals: Sowjetunion und DDR sind inzwischen in den Orkus der Geschichte gefahren, während Lew Kopelew längst unbedrängt internationale Anerkennung findet. Getreu einer Zeile, die oft gesunden wurde im sozialistischen Lager: "Kto byl nitschem, tot bodit wsjem, heißt es in der Internationalen. Wer nichts war, der wird alles sein. Im Leben des Lew Kopelew ist es oft genug auf- und abgegangen, und zwar sehr krass. Im März 1945 vollbrachte er als Major der Roten Armee seine militärisch größte Leistung. Er verhinderte großes Blutvergießen, als er die deutschen Verteidiger der Festung Graudenz zur Kapitulation überredete. Kurz darauf wurde er festgenommen. Vorwurf: unangemessenes Mitleid mit dem Feind. Lew Kopelew hatte seine eigene Armee kritisiert, dass sie als Sieger nicht nur Frieden, sondern auch Schrecken und Verwüstung brachten. Diese Haltung musste er mit 9 Jahren Lager büßen.

Als Lew Kopelew aus dem Lager kam, nahm Alexander Men das Studium auf. Die staatliche Universität blieb ihm verschlossen. Er wich auf die Biologische Fakultät des Moskauer "Instituts für Pelzwaren" aus. Das Institut wurde nach Sibirien, nach Irkutsk verlegt. Men studierte nicht nur Biologie, sondern besuchte gleichzeitig die Theologische Akademie. Dazu gehört damals viel Mut. Unter Chruschtschow erreichte die Kirchenverfolgung einen neuen Höhepunkt, trotz politischen Tauwetters. Alexander Men jüdischen Blutes, aber aktiver Christ - war doppelt suspekt. Er wurde kurz vor dem Examen aus dem Biologie-Studium geworfen. Für den jungen Mann war nun der Weg klar. 1958 wurde er zum Diakon, 1960 zum Priester geweiht. Er ließ sich nicht beirren trotz ständiger Schikanen durch das KGB. Alexander Men verfasste grundsätzliche Arbeiten, Glaubensbücher für ein Volk, das nach der Staatsdoktrin ohne Gott war. Seine Gottesdienste fanden wachsenden Zulauf. 1970 wurde er nach Nowaja Derewnja, im Norden Moskaus auf halbem Wege nach Sagorsk, versetzt.

Wie war es in dieser Zeit Lew Kopelew ergangen? Die Lagerzeit hatte seiner Vitalität nichts anhaben können, Er scherte sich auch nicht um den Kalten Krieg. Nach seiner Entlassung brachte er mit ungebrochenem Elan Böll, Brecht, Remarque und die deutsche Literatur überhaupt unter die Sowjetmenschen. Ohne Rücksicht auf ideologische Grenzen suchte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moskauer Institut für Kunstgeschichte unermüdlich Kontakte zu deutschen Schriftstellern - sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Deutschland.

Mit seiner Einstellung und seiner Offenheit entwickelte er sich für das Sowjetsystem mehr und mehr zu einer Zumutung. Mitte der 60er Jahre schloss sich Lew Kopelew der Bürgerrechtsbewegung an. Er protestierte gegen den Prozess, der den Schriftstellern Daniel und Sinjawski gemacht wurde, weil deren kritischen aber wahren Schriften im Westen veröffentlicht worden waren.

Als Kopelew mit anderen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei verurteilte, flog er aus der Partei und aus dem Institut für Kunstgeschichte. Obwohl er nun das KGB ständig zuverlässig auf den Fersen hatte, fühlte sich der Geschaßte eher befreit. Als freischaffender Wissenschaftler in Sachen deutscher Literatur und Theatergeschichte reiste er durch die Republiken der "ruhmreichen Sowjetunion"; meist vor Ort mit großer Zuneigung behandelt, allerdings nicht von der jeweiligen Geheimpolizei.

Zur gleichen Zeit hatte das allgegenwärtige Komitee für Staatssicherheit auch den Priester Alexander Men fest im Visier, denn nach Nowaja Derewnja machten sich zunehmend Andersdenkende auf den Weg wie der Schriftsteller Alexander Solschenizin, Nadjeschda Mandelstam, die Witwe des Dichters und Stalinopfers Ossip Mandelstam, der Dramatiker und Protestsänger Alexander Galitsch und der Priester Gleb Jakunin, ein Studienfreund und furchtlos unangepasst wie Alexander Men.

Dass überdies so viele junge Menschen zu dem charismatischen Priester nach Nowaja Derewnja eilten, war für die Sowjetmacht besonders beunruhigend. Das KGB fand sich deshalb ständig zu Hausdurchsuchungen ein. Als einer der führenden Köpfe des geistigen Widerstandes wurde Alexander Men beim Geheimdienst unter dem Code-Namen "Missionar" geführt. Sein zuständiger Bischof, Metropolit Juvenali von Krutizki und Kolomna, hielt zu ihm. Ansonsten rückte man in der angepassten Russisch-Orthodoxen Kirche mehr und mehr von Alexander Men ab. Insbesondere die Nationalreligiösen verfolgten ihn als "Brückenkopf des Zionismus in der Russisch-Orthodoxen Kirche". Obendrein infiziere er die Gläubigen mit dem Geist des römischen Katholizismus.

Alexander Men war Ökumeniker. Er machte nie ein Hehl aus seiner jüdischen Herkunft. Aus dem gleichen Volk zu stammen wie Jesus und die Propheten, betrachtete er als eine besondere Verantwortung. Gegen die Gewalt setzte er das Wort. Seine "Betreuer" vom KGB bekamen kein Bein an den Boden, wenn sie ihm ideologisch kamen, denn Alexander Men kannte sich im Dialektischen Materialismus bestens aus.

Derweil ging das Sowjetregime gegen Kopelew immer rigoroser vor. 1975 erhielt er Auftritts- und Publikationsverbot. Stimmung wurde gegen ihn gemacht; auch die physische Bedrohung nahm zu. Die Bekanntschaft mit Willy Brandt hat ihn möglicherweise vor Schlimmerem bewahrt. Aber im Januar 1981 nahm die sowjetische Staatsmacht in perfider Weise ihre Chance wahr. Sie hatte Lew Kopelew und seiner Frau Raissa Orlowa eine Reise in die Bundesrepublik Deutschland erlaubt, um dann zwei Monate später beide auszubürgern.

Es war ein schwerer Schlag, aber weder Lew Kopelew noch Raissa Orlowa gaben entmutigt auf. Beide stürzten sich in die Arbeit: über die russische Literatur, über die deutsche Literatur, über die deutsch-russischen Beziehungen, über ihr Leben in der vertrauten Fremde. In idealer Ergänzung haben sie die Zeit mit großem Erfolg genutzt, um aufzuklären, um Interesse zu erwecken.

Lew Kopelew hat inzwischen viele Auszeichnungen bekommen. Als er 1981 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, nutzte er die Gelegenheit, um vor großer Öffentlichkeit auf die Schicksale verfolgter Menschen in Osteuropa aufmerksam zu machen. Mit gleicher Zielrichtung gründete er die Gesellschaft "Orient-Okzident" mit, um Bücher von inhaftierten und auch sonst unterdrückten Schriftstellern zu veröffentlichen. Vor allem ging sein großer Traum in Erfüllung. Mit Hilfe der Bergischen Universität gründete er das "Wuppertaler Projekt". Es hat sich, wie er es formulierte, zur Aufgabe gemacht, der weitläufigen Frage nachzugehen, was im Laufe der Jahrhunderte Deutsche und Russen voneinander wussten, wie einerseits deutsche Dichter und Wissenschaftler, Diplomaten, Handels- und Forschungsreisende sowie Publizisten über Russland und die Russen und wie andererseits ihre russischen Zeitgenossen über Deutschland und die Deutschen dachten und schrieben, und welches Bild des fremden Anderen aus ihren Schriften entstand. Dieser Beitrag soll auch der Friedensforschung dienen und dazu beitragen, nationalistische oder chauvinistische Vorurteile und Feindbilder abzubauen. Lew Kopelew ist Realist. Er weiß, dass sich verbreitete Fremdenbilder hartnäckig halten, selbst gegen engagierteste Forschungsarbeit. Aber er hofft, dass die Menschen in Deutschland endlich aus der eigenen Geschichte zu lernen beginnen. Er will nach seinen Worten Verständnis wecken - von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk.

Dieses Ziel wurde immer nur zeitweilig, in einem begünstigten historischen Augenblick erreicht. jeder Generation sei die Mühsal aufgetragen, so Lew Kopelew, das Ziel der Verständigung immer aufs neue zu erstreben und dauerhaft zu verwirklichen. Heute kann er zufrieden feststellen, dass es in Deutschland kaum noch Russenhass und in Russland kaum noch Deutschenhass gibt. Aber immer noch wüssten die Völker voneinander nicht genug. Neben den staatlichen müssten weit mehr persönliche Brücken geschlagen werden - zum gegenseitigem Vorteil und als Versicherung für die Zukunft, denn Fremdenbilder könnten in Krisenzeiten leicht wieder zu Feindbildern werden.

1989 war für Lew Kopelew zunächst ein gutes, dann ein trauriges Jahr. Im Frühjahr durfte er zusammen mit seiner Frau Raissa Orlowa endlich wieder Moskau besuchen, dank Gorbatschows Perestroika-Politik. Wenig später starb Raissa Orlowa. Sie war eine eindrucksvolle Persönlichkeit und Lew Kopelew eine starke Gefährtin gewesen.

Die Zeitenwende brachte auch Alexander Men endlich die öffentliche Anerkennung im eigenen Land. Er konnte sich vor Einladungen nicht mehr retten. Die Medien entdeckten ihn. Hörfunk, Fernsehen, Zeitungen. Keine Woche ohne Men. Er machte auf die Menschen großen Eindruck. Sein enzyklopädisches Wissen, seine Rhetorik, seine Menschlichkeit faszinierten die Massen. Die Eröffnung einer Theologischen Sonntagsuniversität in Moskau war vorgesehen. Men sollte ihr Direktor werden. Das Russische Fernsehen hatte bereits für ihn einen wöchentlichen Sendeplatz eingerichtet.

Die Rechten in der Russisch-Orthodoxen Kirche und im KGB waren beunruhigt. Sie empfanden Men's offenen Geist als Bedrohung. Ökumenismus sei Koketterie mit den Feinden des christlichen Glaubens, drohten sie. So schleiche sich der Satanismus ein.

Schmähschriften gegen Alexander Men wurden verteilt.

Am 9. September 1990 wurde Alexander Men auf dem Wege zu seiner Kirche mit einem Beil erschlagen. Die Tat ist bis heute nicht aufgeklärt, aber sie hat offene Zustimmung bei den russischen Rechtsextremisten und Nationalreligiösen gefunden. Alexander Men wurde von ihnen als Ketzer bezeichnet. Es sei richtig gewesen, ihn zu töten. So sei die Sünde des Ökumenismus gesühnt worden.

Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde der ermordete Priester beigesetzt. Vielen Menschen war er in schwierigen Zeiten ein fester Halt gewesen. Sein Beispiel hatte sie ermutigt, zu ihren Überzeugungen von Menschlichkeit und Moral zu stehen. Alexander Men bleibt in der Geschichte ein Platz als Humanist und Brückenbauer zwischen Kulturen und Weltreligionen.

An ihn mit diesem Preis zu erinnern, ist eine gute Tat, denn wir im Westen sollten mehr über Alexander Men wissen. Seine Haltung ist auch für uns von vorbildlicher Größe. Ich bedauere es sehr, dass ich ihm in meiner Moskauer Zeit nicht begegnet bin. Aber Nowala Derewnja war damals außer unserer Reichweite als Korrespondenten, obwohl der Ort kurz vor der Stadt lag.

Lew Kopelew habe ich 1974 kennengelernt. Alexander Solschenizin war aus dem Land geworfen worden. Als ihm seine Frau folgte, hatten sich viele der Andersdenkenden zum Abschied auf dem Flughafen Scheremetjewo versammelt. Unter ihnen Lew Kopelew, der Solschenizin im Lager kennengelernt hatte, was im Roman "Der erste Kreis der Hölle" seinen literarischen Niederschlag gefunden hat. Lew Kopelew und ich fuhren zusammen vom Flughafen in die Stadt zurück. Entrüstet verurteilte er das Vorgehen des Regimes. Was mich beeindruckte, war seine Zuversicht. Gleich bei unserer ersten Begegnung hörte ich von ihm eine Redewendung, die so etwas wie seine Schlüsselparole ist, nie zu verzagen, nie aufzugeben. Sie lautet "trotz alledem und alledem". Auch heute noch ist sie seine ständige Begleiterin.

Generationen von Korrespondenten und Diplomaten in Moskau haben damals durch Lew Kopelew die Sowjetunion, ihre Geschichte, ihre Gegenwart, vor allem ihre Kultur kennengelernt. Es gab kein besseres Klassenzimmer als die Küche von Raissa Orlowa und Lew Kopelew. Oft gerammelt voll! Djessatj metrow na sto tschilawjek, wie es im Lied heißt. 100 Menschen auf 10 Quadratmeter. Wer etwas über interessante Bücher, Filme oder Theaterstücke nicht nur in Russland, sondern auch in Aserbaidschan oder Estland erfahren wollte, begab sich zu Lew Kopelew in die Krasnoarmeskaja. Das Regime hätte diesem Mann eigentlich dankbar sein müssen, denn kein anderer erweckte im Ausland soviel Interesse und auch Sympathie für die Völker dieses Riesenreichs zwischen Brest und Wladiwostok.

Statt dessen gab es nur Ärger und Schikanen. Die Post wurde gänzlich abgefangen, Telefonterror praktiziert und mit Steinen ins Wohnzimmer geworfen. Doch ohne Erfolg! Raissa Ortowa und Lew Kopelew zogen in ein hochgelegenes Stockwerk, wo sie wenigstens vor den Wurfgeschossen sicher waren.

Die Gäste erschienen weiter, wurden auf das Angenehmste bewirtet, vor allem mit inhaltsreichen und auch fröhlichen Gesprächen. Als Gegenleistung hatten sie lediglich westliche Zeitungen mitzubringen und auch Medikamente, mit denen Lew Kopelew kranken Menschen in allen Winkeln der Sowjetunion aushalf, bis hin in die finstersten Lager.

Ich kenne keinen, der intensiver zu motivieren versteht als der heute zu Ehrende. Wenn etwas zu beschaffen ist, dann sofort, denn stets ist bei ihm Eile geboten. Damals in der Sowjetunion zu recht, denn Arzneien zählten zu den Defizitwaren, so dass vergleichsweise harmlose Erkrankungen schnell zu akuten Notfällen werden konnten. So haben wir denn vom großen Meister gelernt, alles umgehend anzupacken und alte Phantasie walten zu lassen beim Umgang mit Zollbehörden bzw. beim Umgehen derselben, auch beim gelegentlichen Transport von Briefen und Manuskripten. Das gilt natürlich nur für totalitäre Staaten, möchte ich der Ordnung wegen hinzufügen.

Für Lew Kopelew sind die wichtigsten Lehren der Geschichte auch die einfachsten. Man braucht seines Erachtens nichts Neues zu erfinden oder zu ersinnen. Seit Jahrtausenden wurden diese Lehren verkündet von Laotse, von Jesus, von Buddha und in der neuen Zeit in den Werken von Diderot, Rousseau, Kant, Goethe, Lew Tolstoi, Gandhi und Andrej Sacharow.

Aus seinem unerschöpflichen Wissensschatz weiß er vor allem die positiven Beispiele hervorzuheben. Marina Zwetajewa, die große Poetin, gehört für ihn dazu. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges brachte sie den Mut und die Größe auf, ihre fortwährende Liebe in einem Gedicht auf Deutschland zu erklären.

   Die ganze Welt schließt sich zusammen,

   verfolgt mit ihrem Hasse dich.

   Wie, sollte ich dich auch verdammen,

   wie, ließe ich dich auch im Stich.

Die schwärmerischen Verse der zwanzigjährigen Lyrikerin fanden im selben Krieg auf der deutschen Seite eine Entsprechung durch einen Realisten reiferen Alters. Thomas Mann schrieb 1917:

"Wenn Seelisches, Geistiges überhaupt als Grundlage und Rechtfertigung machtpolitischer Bündnisse dienen soll und kann, so gehören Russland und Deutschland zusammen. Ihre Verständigung für jetzt, ihre Verbindung für die Zukunft ist seit den Anfängen des Krieges der Wunsch und Traum meines Herzens."

Im Kampf gegen Vorurteile und Feindbilder wird Lew Kopelew nicht müde, Edelmut zu propagieren. Einer seiner deutschen Helden ist der Arzt Friedrich Josef Haas aus Münstereifel, der 1802 als Augenarzt nach Moskau kam und später zu einem der angesehensten Ärzte Russlands wurde. Bis zu seinem Tode setzte sich der Heilige Doktor von Moskau, wie Friedrich bzw. Fjodor Haas genannt wurde, aufopferungsvoll für die Armen und Strafgefangenen ein. Als er starb, gaben ihm Zehntausende Menschen das letzte Geleit.

Nachdem mir Lew Kopelew die Geschichte erzählt hatte, musste ich mit ihm zum Grab von Friedrich Haas eilen, um die deutschen Fernsehzuschauer umgehend über das beispielhafte Wirken ihres Landsmannes aufzuklären. Da auch Politiker und andere Korrespondenten aus der Bundesrepublik in ähnlich intensiver Weise in Kenntnis gesetzt wurden, ist Friedrich Haas in seiner deutschen Heimat dank Lew Kopelew endlich zu der verdienten Anerkennung gekommen. 1980 brachte die Deutsche Bundespost eine Sondermarke zu Ehren des Heiligen Doktors von Moskau heraus. Zur gleichen Zeit wie Friedrich Haas war ein anderer deutscher Arzt in Russland segensreich tätig: Johann Friedrich Graf. Er wurde in Perm am Ural zum Chef des Städtischen Krankenhauses berufen. Da es um die Finanzen schlecht stand, bezahlte er bis zu seiner Pensionierung die Medikamente und Gerätschaften aus seiner eigenen Tasche. Ebenso engagiert kümmerte er sich um die Kinder des Städtischen Waisenhauses.

Johann Friedrich Graf wird auch heute noch im fernen Perm in Ehren gehalten. Nach ihm soll das soeben fertiggestellte Krebskinderkrankenhaus benannt werden, das in der Stadt am Ural von dem Geld gebaut wurde, das Menschen in Nordrhein-Westfalen gespendet haben. Für Lew Kopelew ist eine solche Bürgeraktion, die er im übrigen mit Aufrufen unterstützt hat, konkrete "Volksdiplomatie".

Dieser Mann hat es mit der Geschichte. Gelegentlich auch mit der eigenen. Als er 80 Jahre alt wurde, wollte er - um allem Trubel zu entgehen - eine Reise in seine Vergangenheit machen, So kam ich zu der Ehre, mit ihm nach Polen zu reisen, wo sich Lew Kopelew seine allerletzten Stationen im Zweiten Weltkrieg anschauen wollte. Das heißt ein Gefängnis nach dem anderen, denn nach seiner Festnahme war er beim Vormarsch der Roten Armee bis Stettin als Gefangener mitgeschleppt worden.

Nun machten wir uns also auf die Suche. Bei jeder Ortseinfahrt ließ Lew Kopelew anhalten, um im höflichsten Polnisch als erstes nach dem Kittchen zu fragen, was stets eine gewisse Verwunderung hervorrief. Da ich stumm dabei saß, hatten die Befragten wohl den Verdacht, der ehrwürdige Herr müsse mit mir einen missratenen Angehörigen abliefern.

In Graudenz bekam ich eine Vorstellung, was es heißt, mitten im Gefecht die andere Seite zur Kapitulation zu überreden. Gemeinsam mit Lew Kopelew ging ich die enge Bergstraße zur Festung hoch. Damals hatten sich in den zerschossenen Häusern deutsche und sowjetische Soldaten auf engstem Raum bekämpft. Hier auf offener Straße zur Übergabe aufzufordern, konnte in der unübersichtlichen Frontlage zum sofortigen Tod führen. Dass es gut gegangen war, musste einem Wunder zu verdanken gewesen sein.

Sein jugendliches Husarentum hat sich der alte Knabe bewahrt. 1991 beim Putsch gegen Gorbatschow war Lew Kopelew in Moskau. Natürlich musste er sofort zur Barrikade am Weißen Haus eilen. So kam es, dass ein Russe mit weißem Bart und Wohnsitz in Köln dabeistand und mit den anderen enthusiastisch Hurra-Rufe auf die Demokratie ausbrachte, als Jelzin seine Rede vom Panzer hielt.

Die Erfahrung - so Lew Kopelew - lehrt, was der russische Philosoph Tschaadajew im letzten Jahrhundert treffend formuliert hat: wer seine Vergangenheit vergisst, riskiert in der Zukunft, alle vergangenen Fehler neu zu begehen. Also müsste die Geschichte die Lehrmeisterin unseres politischen Handelns in der Gegenwart werden.

Leider wird nach dieser Erkenntnis konsequent nicht verfahren, wie wir immer wieder feststellen müssen. Der Krieg in Tschetschenien ist ein solcher Fall. Mit heißem Herzen hat Lew Kopelew verfolgt, wie sein Freund Sergej Kowaljow in Grosny unter Lebensgefahr gegen das sinnlose Töten und Zerstören angekämpft hat. Von Köln aus hat er Hilfsaktionen für die Opfer des Krieges unterstützt.

Jetzt, da inzwischen über 30.000 Menschen in Tschetschenien umgekommen sowie Dutzende Städte und Orte verwüstet sind, haben wir die Gewissheit, dass von den unmittelbar beteiligten Parteien alle alten Fehler neu begangen wurden. Aber auch der Westen dürfte nicht ohne Schuld sein. Darüber sollte nicht hinweg gegangen werden. Die entscheidenden Wochen vor dem Kriegsbeginn müssen, so lange die Erinnerung frisch ist, aufgearbeitet werden. Dann wird sich unerbittlich herausstellen, welche unverzeihlichen Fehler begangen wurden.

Trotz alledem und alledem gibt Lew Kopelew nicht auf. Wie für den von ihm geliebten und verehrten Heinrich Böll ist auch für ihn Einmischung Pflicht. So engagiert er sich nicht nur gegen den Krieg des Kremls gegen die Tschetschenen, sondern auch gegen Fremdenhass in Deutschland oder erneut zusammen mit Rupert Neudeck gegen den Einsatz der heimtückischen Landminen, die täglich viele Menschenleben, insbesondere in Afrika fordern, auch lange Zeit nach Kriegen.

Lew Kopelew fühlt sich verpflichtet, das Vermächtnis seines Freundes Andrej Sacharow zu vermitteln. Dies ist für ihn die "neue russische Idee". Sacharow habe die Einheit des wissenschaftlichen Gedankens, der politischen Tat und der moralischen Integrität als Notwendigkeit für alle Völker nicht nur theoretisch bewiesen, sondern auch vorgelebt. Die Erkenntnis dieser Dreieinheit von Wissenschaft, Politik und Moral ist für Lew Kopelew die Botschaft des unsterblichen russischen Geistes an Europa, an die ganze Welt.

Da ich mit Lew Tolstoi begonnen habe, lassen Sie mich mit dem Alten von Jasnaja Poljana auch enden. "Bei unseren Handlungen dürfen wir uns nicht davon leiten lassen, jedesmal darüber nachzudenken, was wir damit für die Weit leisten. Dem Menschen ist anderes gegeben, etwas Unumstrittenes: Sein Gewissen. Folgt er ihm, dann weiß er ohne Zweifel, was zu tun ist.

Tolstois Appell könnte auch für uns heute inspirierend sein.


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Grußwort
Roman Herzog,
Bundespräsident

Grußwort
Ekateria U. Genieva,
Moskau

Grußwort
Alexei Slovesnyi,
Moskau

Laudatio
Fritz Pleitgen,
Köln

Preisverleihung
Prof. Dr. Günter Bien,
Stuttgart

Dankesworte
Lew Kopelew

Artikel Südwest Presse

Biografie des Preisträgers

Buchpublikationen in der BRD

Weitere Informationen über Lew Kopelew auf Wikipedia