Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 1996

Lew Kopelew

Dankesworte

von Lew Kopelew

"Die schöne Lobrede meines Freundes Fritz Pleitgen lässt mich auch die Vorteile des Alters erkennen. Wäre ich jetzt zwei Jahrzehnte jünger, hätte ich nach einer solchen Lobrede bei der nächsten Präsidentschaftswahl gegen Jelzin zu kandidieren versucht.

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Das Schicksal Aleksandr Mens ist einzigartig und sinnbildlich. Sein Leben, sein Werk und sein Märtyrertod bringen den Geist der russischen Kultur zum Ausdruck und sind bereits Teil der tragischen Geschichte Russlands, dessen Martyrium immer noch andauert.

Vater Aleksandr Men hat das Christentum nicht nur gepredigt und gelehrt, sondern auch vorgelebt. Das Evangelium, besonders die Bergpredigt, bestimmten seine Weitsicht, seinen Lebensweg: "Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit…

Selig sind die Friedfertigen ... " (Matthäus 5,6 und 9)

Aleksandr Men dürstete nach Gerechtigkeit; er war friedfertig und stiftete Frieden und strebte danach, auch in seinen Schülern, seinen Lesern und Hörern den Hunger nach Wahrheit und Gerechtigkeit, nach Frieden und Menschlichkeit zu wecken.

Heutzutage, am Vorabend des dritten Jahrtausends der christlichen Zeitrechnung, gibt es immer noch zu wenig echte Christen, für die Toleranz und Nächstenliebe nicht bloß Lippenbekenntnisse sind, sondern ihr tägliches Dasein, ihr Tun und Lassen entscheidend bestimmen.

Vater Aleksandr Men war einer dieser wenigen, ein Christ ohne Furcht und Tadel. Und als solcher bleibt er in seinen Werken, in Predigten und Vorträgen, in theologischen und historischen Arbeiten, in seinen Briefen und im liebenden Gedächtnis seiner Schüler, Hörer, Leser lebendig. Sein Tod durch Mörderhand war und ist ein mahnendes Wetterzeichen; seit sechs Jahren vermag der Staat die Mörder und Drahtzieher nicht zu ermitteln. Immer neue Krisen und Wirren erschüttern Russland; Zerfall und Verfall der Wirtschaft, der sozialpolitischen Verhältnisse, der gesellschaftlichen Moral dauern verderblich an.

Trotz alledem gibt es in Russland gesunde, fruchtbare, schöpferische Kräfte; denn unsterblich ist der russische Geist – der Geist von Andrej Sacharow und Aleksandr Men. Sie beide – der konfessionslose Naturwissenschaftler und der tiefgläubige russisch-orthodoxe Priester – hofften auf die Zukunft ihrer Heimat, hofften, dass im Geiste der Freiheit und Gerechtigkeit, der christlichen Toleranz und Menschlichkeit Russland genesen werde und die globale tödliche Gefahr, die unseren Planeten bedroht, in friedlicher Zusammenarbeit mit anderen Völkern und Staaten überwunden werde.

Diese Hoffnung, diesen Glauben teile auch ich; sie bestimmen Sinn und Zweck meiner Arbeit, meines Lebens. Deswegen ist dieser Preis eine ganz besonders große Ehre für mich. Selbstverständlich kann sie nicht mir allein gelten. Vor vierzehn Jahren entstand an der Bergischen Universität in Wuppertal eine Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder von den Anfängen im Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Aus dieser tausendjährigen Geschichte wollten wir erfahren, wie Deutsche und Russen einander kennenlernten, wie sie einander einschätzten, wie Vorurteile und Feindbilder entstehen und wie trotz aller Gegensätze, Streitigkeiten und grausamen Kriege sich die geistigen Verbindungen zwischen den Völkern immer mehr erweiterten und vertieften.

Die Arbeit dieser Forschungsgruppe wird bald beendet sein. Ihre Ergebnisse werden in zwei Buchreihen unter dem Sammeltitel „ West-östliche Spiegelungen" vorgestellt. Sechs Bände sind bereits erschienen, drei in der Herstellung; der abschließende zehnte Band ist noch in Vorbereitung. Nicht nur deutsche, österreichische und schweizer Autoren, sondern auch russische, amerikanische, englische und französische Historiker. Literatur- und Kunstwissenschaftler haben zu diesen Bänden beigetragen.

Die Erfahrungen, die Lehren aus der Geschichte erscheinen uns ebenso wichtig wie gegenwartsnah. Wir wünschen uns, dass sie möglichst viele Deutsche und Russen erreichen, nicht nur Fachwissenschaftler und Studenten, sondern auch alle Zeitgenossen, die zum Nach- und Weiterdenken über diese Erfahrungen bereit sind.

Zu Beginn unserer Arbeit erschien dieses Projekt eher wirklichkeitsfern und akademisch. Deshalb möchte ich an dieser Stelle dem tapferen Verleger Herrn Ferdinand Schöningh dafür danken, dass er es seinerzeit übernahm, die geplante Sammelreihe herauszugeben, die seit dem 1985 einsetzenden politischen Umschwung so unvorhersehbar an Aktualität gewonnen hat.

Aus demselben Streben, möglichst vielen Menschen die Lehren der Geschichte erkennbar und nachvollziehbar zu machen, entstand die Idee der vor zwei Jahren in Moskau gezeigten Ausstellung "Deutsch-russische Begegnungen im Zeitalter der Aufklärung". Daran beteiligten sich die Allrussische Staatsbibliothek für Ausländische Literatur „Rudomino" und das Goethe-Institut Moskau zusammen mit unserer Forschungsgruppe, dem „Wuppertaler Projekt". Diese Ausstellung wandert bereits durch mehrere russische Städte; ihre deutsche Spiegelvariante wird am 28. Oktober in Wuppertal durch den Ministerpräsidenten Johannes Rau eröffnet und soll später in zehn weiteren deutschen Städten präsentiert werden. Sowohl die mehr als ein Jahrzehnt andauernde Arbeit der Wuppertaler Forschungsgruppe wie auch die bevorstehende Ausstellung wären ohne die selbstlose Mühe. Kompetenz und Phantasie meiner unermüdlichen Mitarbeiter nicht möglich gewesen.

Darum danke ich für die heutige Ehrung, für den Aleksandr-Men-Preis, auch im Namen meiner jungen deutschen und russischen Mitarbeiter: Dagmar Herrmann, Mechthild Keller, Jekatarina Schukschina, Gerd Koehnen, Kari-Heinz Korn, Alexander Ospowat und Rainer Sprung. Die mit diesem Preis verbundene Geldsumme übergebe ich dem Kinderkrankenhaus in Grosnü (Tschetschenien), das von dem Komitee Cap Anamur. Deutsche Not-Ärzte e.V. betreut wird.

Ich glaube, dass Vater Alexandr Men diese Verwendung seines Preises billigen würde."


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Grußwort
Roman Herzog,
Bundespräsident

Grußwort
Ekateria U. Genieva,
Moskau

Grußwort
Alexei Slovesnyi,
Moskau

Laudatio
Fritz Pleitgen,
Köln

Preisverleihung
Prof. Dr. Günter Bien,
Stuttgart

Dankesworte
Lew Kopelew

Artikel Südwest Presse

Biografie des Preisträgers

Buchpublikationen in der BRD

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