Verleihung des Aleksandr-Men-Preises im Jahr 1995

Kathinka Dittrich van Weringh

Rede

Boris Chlebnikow

Der schwere Weg zum Dialog
(Alexandr Men' als Mittler zwischen den Kulturen)

 

Anfang dieses Jahres wurde der 60. Geburtstag von Aleksandr Men' gefeiert. Im Herbst jährt sich zum fünften Mal sein Märtyrertod, der uns bis heute zutiefst erschüttert. Zwei Präsidenten, Michail Gorbatschow und Boris Jelzin, haben ihr Wort gegeben, alles zu unternehmen, um den Mörder zu finden. Die Untersuchung blieb ergebnislos.

Vater Aleksandr war Priester, und zwar fast auf den Tag genau 30 Jahre. Das ist eine recht lange Zeit, aber es wurde auch erstaunlich viel geleistet. Vater Alexandr hat seine Priesterpflicht mit äußerster Hingabe erfüllt. Das ließ ihm wenig Muße, jedoch hat Aleksandr Men' über zwei Dutzend großer Werke veröffentlicht, darunter eine umfangreiche, sechsbändige Geschichte der Religion. Allein in den letzten zwei Jahren seines Lebens sind mehrere Dutzend seiner Artikel erschienen, es wurden über 200 öffentliche Auftritte absolviert. Viel Zeit und Kraft erforderten großangelegte Projekte, z. B. die Organisation einer interkonfessionellen Bibelgesellschaft. Groß bleibt der Nachlass seiner geschriebenen, aber immer noch nicht herausgegebenen Werke, darunter ein in seiner Bedeutung einmaliges siebenbändiges Lexikon der Bibelforschung mit einem besonderen Augenmerk auf die russische Bibliologie.

Man darf nicht vergessen, dass abgesehen von diesen beiden letzten Jahren seine wissenschaftliche Arbeit durch die damalige Informationsblockade schwer behindert war. Seine öffentliche Tätigkeit wäre legal überhaupt nicht möglich gewesen. Sie wurde trotzdem ausgeübt, sogar in erstaunlich großen Dimensionen, musste sich aber weitgehend den Bedingungen einer völligen oder bestenfalls teilweisen Konspiration unterwerfen. Dazu kamen noch die Unstimmigkeiten mit einigen Hierarchien der russischen orthodoxen Kirche.

In seiner Kindheit bekam Alexandr Men' die erste geistige Führung von den Menschen, die der sogenannten Katakombenkirche angehörten, also den härtesten Repressalien seitens des Staates ausgesetzt waren. Sie haben aber den jungen Alexandr nicht zur religiösen Selbstisolation, nicht zu Abgeschiedenheit von der Außenwelt erzogen, was verständlich wäre. Ganz im Gegenteil – ihre erstaunliche Offenheit hat den Charakter und das ganze geistige Wesen von Alexandr Men' geprägt. Viele Jahre später berichtete er über den Beginn seines Weges folgendes: "Mutter Maria hatte einen Wesenszug, der sie mit den Starzen vom Optino-Kloster verwandt macht und der mir so teuer ist. Dieser Wesenszug ist Offenheit zu anderen Menschen, zu ihren Problemen, die Offenheit zur Weit. Gerade solche Offenheit hatte die besten Vertreter der russischen Kultur nach Optino hingezogen. Im Grunde genommen hat Optino nach einer langen Unterbrechung den Dialog zwischen der Kirche und der Öffentlichkeit wieder aufgenommen. Das war eine Anregung von außerordentlicher Bedeutung, obwohl seitens der kirchlichen Obrigkeit mit Misstrauen und Missbehagen begegnet ... Mein ganzes Leben wurde von dem Gedanken geprägt, dass dieser Dialog nicht unterbrochen werden darf und dass ich nach meinen bescheidenen Kräften zu diesem Dialog beitragen muss."

Es sei hier erinnert, dass Optino im vorigen Jahrhundert zu einem der wichtigsten Zentren des geistigen Lebens Russlands wurde, ja zum Symbol des Dialogs mit den Kulturschaffenden, Künstlern, Dichtern, Philosophen, Wissenschaftlern. Hier können u. a. solche weltberühmte Namen genannt werden wie Gogol, Dostojewskij, Tolstoj, aber auch Konstantin Leontjew und Wladimir Solowjow. 

Übrigens mit 15 Jahren hat Aleksandr das philosophische Werk von Wladimir Solowjow entdeckt, das ihn seitdieser Zeit nachhaltig beeinflusste. Unter diesem Einfluss formten sich die ökumenischen Ideen von Alexandr Men', sein Streben nach einer ganzheitlichen christlichen Weltanschauung, seine Bereitschaft, sich geistigen und sittlichen Erfahrungen aller Weltreligionen, Kulturen, der Kunst und der Wissenschaft zu öffnen.

In seinen autobiografischen Notizen wies Alexandr Men' auch darauf hin, welch tiefen Eindruck auf ihn die Persönlichkeit und das Werk von Papst Johannes XXIII. hinterließen. Ich glaube, er konnte den Worten von Hans Küng beipflichten, der schrieb: "Die größte Leistung von Papst Johannes XXIII., dem bedeutendsten Papst dieses Jahrhunderts, und des von ihm berufenen Zweiten Vatikanischen Konzils hatte gerade darin bestanden, für die katholische Kirche gleichzeitig einen doppelten Paradigmawechsel nachzuvollziehen, den der Reformation (bezüglich Bibel, Verkündigung, Laienschaft Volkssprache in der Liturgie) und den der Moderne (bezüglich Religionsfreiheit, Judentum, Islam und übrigen Weltreligionen sowie säkularer Weit und Wissenschaft überhaupt)." Als Student hat Alexandr Men' in der sibirischen Stadt lrkutsk sehr rege menschliche Kontakte mit den Vertretern der evangelischen und der katholischen Kirche gepflegt. Dieser geistige Austausch währte und vertiefte sich in allen nachfolgenden Jahren. Das Leben selbst drängte den Vater Alexandr dazu. Er kam ja aus einer jüdischen Familie, und in seiner formellen und Informellen Gemeinde gab es viele Juden, also das Thema der Beziehungen zwischen dem Judentum und dem Christentum beschäftigte ihn verständlicherweise. Leider kann man nicht abstreiten, dass in der russischen orthodoxen Kirche gewisse Tendenzen zum Antisemitismus und dem großrussischen Chauvinismus sich bis heute bemerkbar machen. Das hat manche Juden, die der russischen orthodoxen Kirche angehörten, von dieser abgewendet und zum Konfessionswechsel verleitet. Ohne auf diese Problematik jetzt einzugehen, möchte ich bemerken, dass Aleksandr Men', obwohl erden Dramatismus jeder einzelnen persönlichen Situation durchaus nachfühlen konnte, nicht der Meinung war, dass intrakonfessionelle Probleme oder Probleme der interkonfessionellen Beziehungen durch den privaten Kirchenwechsel gelöst werden können. Für ihn bedeutete ein solcher Schritt eine weitere versäumte Chance des Dialogs. In solchen kleinen Gruppen sah er Primärzellen der wechselwirkenden Mikro- und Makrokommunikation in der Gesellschaft, die immer, aber besonders in der Umbruchzeit wichtig ist. Vater Alexandr war ein Dorfpriester. Die letzten 20 Jahre hat er einer kleinen Kirche in Nowaja Derwnja gewidmet. Dieser Ort wurde zum neuen Optino, von dem eine große Ausstrahlung und eine gewaltige Anziehungskraft ausging. Die informelle Gemeinde von Vater Alexandr wuchs unaufhörlich. Er wurde sehr populär unter den Moskauer Intellektuellen. Darin sah er auch eine bestimmte Gefahr, denn, seiner Meinung nach, wird die echte geistige Gemeinschaft sowohl durch den Selbstisolationismus bzw. Egoismus als auch - mit seinen eigenen Worten gesprochen - durch den "Ameisenhaufen" gefährdet. Daher kommt das Bestreben von Vater Alexandr, die kleinen Gruppen zu bilden, die einerseits die Bindung an die große Gemeinde aufrechterhalten, andererseits jedoch den einzelnen Mitgliedern die Möglichkeit zum unmittelbaren persönlichen Kontakt miteinander, zum lebendigen geistigen Austausch und nicht zuletzt zum tätigen "Dienst füreinander" geben können.

Die Zusammenarbeit zwischen Alexandr Men' und der Zeitschrift "Ausländische Literatur" begann 1986. Die Vermittlung kam zustande über Frau Ekaterina Genieva, hervorragende Kennerin der englischen Literatur und geistige Tochter von Vater Aleksandr. Heute leitet sie die Bibliothek der ausländischen Literatur in Moskau. Durch unerschöpfliche Energie, enormen persönlichen Einsatz, weltweit anerkanntes Fachwissen konnte sie unzählige Projekte initiieren und realisieren. Allein die pflege des Nachlasses von Aleksandr Men', die Durchführung der jährlichen internationalen Aleksandr Men' Symposien hätten einen gesonderten Berichtverdient und ich muss hier aus Zeitmangel selbst auf Aufzählung der bedeutendsten Projekte der Bibliothek für ausländische Literatur verzichten.

Damals bemühte sich unsere Redaktion um die Publikation des Romans von Graham Green "The Power and the Glory" ("Die Kraft und die Herrlichkeit").

Diesen in der Sowjetunion verbotenen Roman hat Aleksandr Men' in besonderer Weise geliebt. Er hat das Buch nicht nur selbst übersetzt, sondern auch auf Tonband gesprochen. Diese Aufzeichnung wurde von Freunden vervielfältigt und ging um als eine originelle Form von Samisdat. Die Zeitschrift traute sich nicht, diesen Text zu  verwenden, aus Befürchtung, dass der Name Men' die Publikation zusätzlich gefährden wird. Vater Aleksandr hat das sehr gelassen hingenommen und half sogar bei der redaktionellen Arbeit an einer anderen Übersetzung. Diese Publikation wurde nicht nur zu einem wichtigen Kulturereignis, sie bedeutete – Durchbruch. Ein Tabu hat aufgehört zu existieren. Die Zusammenarbeit wurde fortgesetzt. Aleksander Men' schrieb – jetzt nicht mehr anonym – mehrere Beiträge, entwickelte interessante Projekte als Herausgeber, nahm an unseren Diskussionen teil. Wie typisch für ihn war seine Art der Hinwendung zur schöngeistigen Literatur. Er musste sich zu Wort melden, das geschah aber nicht aus dem Selbstdarstellungsbedürfnis eines literarischen Talents, sondern aus dem inneren Verständnis eines jeden geistigen Kontaktes als Dialog und Gedankenaustausch.

Der schwere Weg zum Dialog. So hat Aleksandr Men' nicht nur sein Nachwort zum Roman von Graham Green "Monsignore Quihote" genannt, wo der Dialog zwischen den Christen und Marxisten thematisiert wird, sondern auch den Sammelband seiner Reden, der schon nach seinem Tod erschienen ist. Dieser Titel mag etwas tautologisch anmuten, denn üblicherweise wird der Dialog selbst mit einem Weg verglichen. Aleksandr Men' aber betrachte  den Dialog als eine höhere Stufe der Verständigung, der eine oft mühsame und langsame Annäherung, ein schwieriges Entgegenkommen vorausgehen soll. Dialog ist kein einziger Weg, sondern eine Vielfalt der Wege, die sich kreuzen, auseinanderlaufen und wieder auf ein gemeinsames Ziel aus verschiedenen Richtungen zu steuern. Davon, wie schwer ein Weg zum Dialog sein kann, zeugt der Tod von Aleksandr Men'.

Es darf hier ein Ereignis nicht unbeachtet bleiben, das im Mai 1990 stattgefunden hat und an das später alle Beteiligten sich mit großer Nostalgie erinnern. Ich meine ein Treffen, das damals von der katholischen Akademie Rottenburg-Stuttgart und der Zeitschrift "Ausländische Literatur" organisiert wurde.

Kirgisien war dabei durch Tschingis Aitmatow vertreten, Kasachstan durch Abidjamil Nurpeissow, Weißrussland durch Ales Adamowitsch, Litauen durch Algimantis Butschis, Moldawien durch Iona Drute, Russland durch Daniil Granin und Oleg Tschuchonzew, um nur die Klassiker der jeweiligen Nationalliteraturen zu nennen. Die Teilnehmerliste auf der Gastgeberseite war mit nicht weniger illustren Namen geschmückt. Aleksandr Men‘ war auch in dieser Runde.

Es ist klar, dass Begegnungen und Gespräche außerhalb des offiziellen Programms oft noch interessanter und spannender sind. Wir erleben ja die dramatische Zeit des großen und vielseitigen Umbruchs. Fast alle sowjetischen Teilnehmer kannten sich sehr gut und waren befreundet. Aleksandr Men‘ war neu in diesem Kreis, aber gerade er wurde oft zum Mittelpunkt der informellen und sehr offenen Gespräche, obwohl er bei den politischen Diskussionen eher zurückhaltend wirkte, ohne verschlossen zu sein. Man sprach sich gern in seiner Gegenwart aus, und man härte nicht weniger gerne zu. Aber auch das offizielle Programm hatte seine Höhepunkte, darunter ist unbedingt der Vortrag von Hans Küng zu nennen, der über den tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der heutigen Weit sprach. „Ökumene", sagte er, „ist heute nicht mehr verengt kirchlich oder christlich zu verstehen, beschränkt auf die Einheit der  christlichen Kirchen. Sie muss mehr und mehr den Frieden (nicht die Einheit) unter den großen Religionen einbeziehen. Denn: Kein Friede unter den Nationen – von Fernost über Indien, dem Mittleren Nahen Osten bis hin nach Südafrika und Nordirland – ohne Frieden der Religionen. Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog aber unter den Religionen.

Dialog – von der Straße und der Volksschule angefangen bis zu dem offiziellen Dialog der Religionsvertreter, Wissenschaftler und Politiker – bedeutet gegenseitige Information, aber auch wechselseitige Diskussion und so schließlich allseitige Transformation."

Für mich war sehr beeindruckend die Übereinstimmung der Intentionen solch verschiedener Persönlichkeiten und Denker wie Hans Küng und Aleksandr Men', der, glaube ich, den ökumenischen Gedanken noch weiter geführt hat und nicht nur über die "Ökumene der Weltreligionen" sprach, sondern auch über die geistige und sittliche Ökumene. Er reagierte auf den Vortrag von Hans Küng mitfolgenden Worten: „ Das echte Leben der Persönlichkeit besteht in der Offenheit gegenüber anderen Persönlichkeiten, im Dienen für die anderen. In dieser Selbstaufgabe und in diesem Personalismus bestätigt sich das Geheimnis der Liebe und des Dienens, nur auf dieser Grundlage ist das künftige ökumenische Bild der Weit möglich. Die konkrete Aufgabe hier ist, den Menschen dieses offene Verhaltensmodell nahe zu bringen." Aleksandr Men' betonte: "Die Kulturschaffenden haben eine große Verantwortung bei der Vermittlung ihres eigenen Beitrags zur künftigen Ökumene. Das betrifft Schriftsteller, Philosophen, Theologen und Pädagogen… Ob sich der Mensch für gläubig hält oder nicht, ohne Geistigkeit gibt es den Menschen nicht ... Der Apostel Paulus sagt: „Löscht den Geist nicht aus." Wenn bei uns der Geist erlischt, ob im Westen oder im Osten, werden wir allmählich verfallen, ob unter den Bedingungen des Komforts oder der Armut."

Ungefähr zwei Jahre später, als Frau Genieva das Archiv des ermordeten Vaters Aleksandr ordnete, fand sie einen Zettel. Auf diesem Zettel wurde das Projekt eines Kulturpreises entworfen. Aleksandr Men‘ wollte mit Gleichgesinnten einen Preis stiften, um hervorragende Beiträge zur kulturellen und geistigen Annäherung der Völker zu ehren. Einer Eingebung folgend haben zur gleichen Zeit die katholische Akademie Rottenburg-Stuttgart und die Zeitschrift „Ausländische Literatur" eine ähnliche Initiative entwickelt, die jetzt dank Unterstützung realisiert werden kann.

Ich bin glücklich über eine absolute Einmütigkeit bei der Entscheidung, die Frau Dr. Kathinka Dittrich van Weringh zur ersten Trägerin des internationalen Aleksandr-Men-Preises auserkor. Sie hat ihr Leben dem Dialog gewidmet, dem großen Dialog der Kulturen, der ohne zwischenmenschliche Dialoge nicht möglich ist.


Es gilt das gesprochene Wort!

Programm

Begrüßung
Dr. Gebhard Fürst,
Direktor der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart

"Der schwere Weg zum Dialog" - Rede
Boris Chlebnikow,
Verleger, Moskau

Laudatio
Dr. Vladimir Skorodenko,
Bibliothek für Ausländische Literatur, Moskau


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